Renaturierungen: mehr Platz für das Wasser
In der Schweiz hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden: Verbaute Kanäle werden wieder zu freien Flüssen - so zum Beispiel die Emme südlich von Burgdorf.
Die Renaturierung schaffte neuen Lebensraum für Pflanzen und Tiere.
«Eine Zeit lang fühlte ich mich fast wie ein Fremdenführer.» Ruedi Mosimann schmunzelt noch heute, wenn er sich daran erinnert. Fast täglich seien in den 90er Jahren Delegationen aus aller Welt hier an der Emme zu Besuch gewesen.
Das rasante Wasser abbremsen
Schnurgerade kanalisiert fliesst die Emme von Burgdorf Richtung Mittelland. Links und rechts sind Mauern, das Wasser wird nur von Schwellen gebremst. Doch einige Kilometer südlich von Burgdorf steht mit der «Emme-Birne» eine Pionierleistung in der Landschaft.
Die Emme bremst hier ab und fliesst, von ihrem Korsett befreit, in einem breiteren Bett. Dabei schlängelt sich das Wasser in verschiedenen Strängen über eine Länge von über 700 Metern durch die so genannte «Birne».
In der wiedergewonnenen «Freiheit» scheint das Wasser fast friedlich, sucht sich seinen eigenen Weg. Sofort fällt auf, dass hier Pflanzen und Tiere sind, die man sonst an der kanalisierten Emme selten antrifft.
Pionierarbeit
Mitten in der Naturlandschaft steht Ruedi Mosimann, Wasserbauingenieur im Tiefbauamt des Kantons Bern. Er war der Projektleiter, der 1991 die Ausweitung des Flussbettes geplant und überwacht hatte.
Als Folge der engen Begradigung hatte sich das Wasser immer tiefer in die Sohle eingegraben, immer mehr Material mitgenommen, erinnert sich Ruedi Mosimann: «Man hätte weitere Sperren einbauen müssen, wenn man das Wasserbett hier nicht ausgeweitet hätte. Und Sperren sind immer Wanderhindernisse für Forellen und weitere Fische.»
«Renaturierung» heisst das Zauberwort: Die Emme-Birne entstand, weil ohnehin eine Schwelle dringend hätte ausgewechselt werden müssen.
Nachdem eine Studie im Modell 1:55 bewiesen hatte, dass eine Renaturierung auch der Überflutungsgefahr entgegenwirken kann, entschied sich der Kanton Bern, statt einer neuen Schwelle die Idee der Verbreiterung in die Praxis umzusetzen.
Die normale Fliessgeschwindigkeit in geraden Flusspassagen beträgt 12,6 km/h. «Wir bremsen den Fluss hier um rund zwei Stundenkilometer», erklärt Mosimann. Die Folge: Wo der Fluss früher schnurgerade durchschoss, haben sich Pflanzen auf kleinen Inseln angesiedelt.
Überflutungsgefahr gedämmt
«Wir haben eine Sohlen-Stabilisierung erhalten, wie es das Modell vorausgesagt hat», zieht Mosimann nach elf Jahren eine durchwegs positive Bilanz, «zudem wurde das Gebiet ökologisch aufgewertet». Und: Auch der Hochwasser-Schutz sowie die Sicherheit vor Überschwemmungen seien gewährleistet.
Mosimann lobt die Mitarbeit der betroffenen Gemeinden: «Es musste anfänglich zwar viel politisches Verständnis für diese Art von Verbauung geweckt werden.» Nachdem man diese Hürde abgebaut habe, sei dann das Projekt aber schnell und unbürokratisch umgesetzt worden.
Ein Punkt, der der Emmen-Birne wohl auch zum raschen Erfolg verholfen hatte: Die Kosten. «Wir haben das kostenneutral gebaut», betont Mosimann. Das bedeutet: Der Einbau einer konventionellen Schwelle hätte genau gleich viel gekostet.
Flüsse als Stiefkinder
Während der Wald als Lebensraum schon seit langer Zeit geschützt und gepflegt wird, wurden Bäche und Flüsse lange als Bedrohung wahrgenommen. Die Folgen: Sie wurden verbaut, begradigt, zwischen Mauern eingezwängt.
Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist sich der Mensch der Bedeutung des Lebensraumes Wasser für Tiere und Pflanzen bewusst geworden.
Der Kanton Bern nimmt mit dem Renaturierungsfonds hier eine Pionierrolle ein. Neben den Projekten an der Emme sind weitere an der Kander und der Aare im Gang. Doch auch in anderen Kantonen erhalten Flüsse wieder mehr Raum. Zum Beispiel die Thur in der Ostschweiz oder der Rhein bei Chur. Schweizweit die grösste Renaturierung ist zudem entlang der Rhone geplant.
Auf eidgenössischer Ebene unterstützt der Bund die naturnahe Nutzung von Fliessgewässern mit wirtschaftlichen Anreizen. Auf den Schutz von Auen wird dabei ein besonderes Augenmerk gelegt.
Andreas Götz, Vizedirektor des Bundesamtes für Wasser und Geologie, ist der Meinung, dass Fliessgewässer, wo immer möglich, wieder mehr Platz erhalten sollen. «Natürliche Rückhalteräume wie Flussauen sollen möglichst erhalten und wo immer möglich wiederhergestellt werden».
Nicht alle teilen diese Meinung, nicht überall machen die Gemeinden mit. Die Renaturierung stösst vor allem in landwirtschaftlichen Kreisen auf Ablehnung. Oft streiten sich Anwohner und Gemeinden um die Kosten.
Diese Probleme scheint Ruedi Mosimann im Emmental nicht zu kennen. Er baut oder plant schon an diversen weiteren Stellen der Emme und ihrer Zuflüsse. Vier Projekte sind bereits realisiert.
Für Mosimann ist klar, sein Weg ist der richtige: «Allgemein bringt die Renaturierung eine sehr gute Aufwertung: Mehr Fische, mehr Kleintiere, mehr Vögel und eine grössere Artenvielfalt. Punkt für Punkt kann man sagen: Nur positiv!»
swissinfo, Christian Raaflaub
Jahrhunderte lang haben die Menschen die Flüsse und Bäche zurückgedrängt und kanalisiert, um die Täler und Auenlandschaften nutzen zu können.
Doch wenn die Dämme nicht allen Unwettern standhalten, drohen Überschwemmungen und Hochwasser grosse Verwüstungen anzurichten. Die Schweiz erlebte, sowohl in der Vergangenheit wie noch heute, viele solche Naturkatastrophen.
Werden Flussläufe renaturiert, erhält das Wasser mehr Raum. Die Gefahr von Überschwemmungen kann dadurch häufig eingedämmt werden. Zudem entsteht in diesen herkömmlichen Flusslandschaften wieder Lebensraum für viele Pflanzen und Tiere.
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