SBB-Chaos wirft elementare Fragen auf
Der Kurzschluss, der zu einem totalen Kollaps des stark belasteten Schweizer Schienennetzes führte, hat die Debatte um Panne und Ursache angeheizt.
Laut den Schweizer Bundesbahnen (SBB) ist der grösste Blackout ihrer Geschichte auf strukturelle Schwächen der Stromversorgung zurückzuführen.
Mittwoch-Abend stand die Schweiz still. Über 200’000 Pendlerinnen und Pendler waren von der mehrstündigen Strompanne der Schweizerischen Bundesbahnen betroffen. Die SBB entschuldigte sich und erklärte die Panne mit strukturellen Problemen im Stromnetz.
Nun nehmen auch europäische Eisenbahn-Gesellschaften Stellung zu Stromproblemen. Die meisten vermuten, dass ihr Netzwerk zwar ebenfalls von einer ähnlichen Panne betroffen sein könnte, jedoch sicherlich nicht ein ganzes Land.
Kevin Groves, Pressechef beim britischen Infrastruktur-Anbieter «Network Rail», erklärte, dass der Strom in Grossbritannien von «verschiedenen Anbietern» und aus «verschiedenen Verteilsystemen und Netzwerken» geliefert werde.
«Diese Strecken verfügen alle über Ersatzlieferanten für Strom und Hilfsaggregate für solche Fälle», sagte er gegenüber swissinfo.
«Somit kann unser gesamtes Netzwerk nicht durch einen Kurzschluss gefährdet werden. Falls jedoch Haupt- und Ersatzleitungen ausfallen würden, wären die Auswirkungen nur sehr regional spürbar.»
Domino-Effekt
Auch in Deutschland wäre eine vergleichbare Panne «kaum möglich», erklärte ein Sprecher der Deutschen Bahn (DB) vor der Presse. Die DB habe ein «dezentralisiertes» System von Stromlieferanten mit 55 verschiedenen Kraftwerken.
Diese Meinung teilt Professor Matthias Finger von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL).
«Was erstaunt, ist die Tatsache, dass gleich das ganze System zusammengebrochen ist, nicht nur einige Regionen. Ich verstehe nicht, wie das passieren konnte.»
Finger, ein Spezialist für Management von Infrastrukturen, erklärte gegenüber swissinfo, dass das Schweizer System von fest zugeordneten Strom-Kraftwerken «ziemlich typisch» für europäische Länder sei.
In der Schweiz jedoch ungewöhnlich sei die Art und Weise, wie sich ein Problem in einer Region «wie Dominosteine» weiter ausbreitet und schliesslich das ganze Land treffen könne.
Ausserdem sei das Schweizer Eisenbahn-Energiesystem nicht kompatibel mit den europäischen Standards. Die SBB hatten in den Jahrzehnten nach dem Ersten Weltkrieg ein eigenes, unabhängiges Stromsystem entwickelt.
Insel-Dasein
Professor Ulrich Weidmann, Spezialist für Management von Verkehr und Transportsystemen an der ETH Zürich, erklärte, dass dieses System hauptsächlich aus historischen Gründen entwickelt wurde.
«Die Schweiz ist zusammen mit Deutschland, Österreich, Norwegen und Schweden eines von fünf europäischen Ländern, die aus technischen Gründen ein eigenes Stromsystem aufgebaut hatten», sagte er.
«In der Folge ist es heute viel zu teuer, das existierende System zu ändern. Doch die Schweiz ist heute recht isoliert mit ihrem System, das nicht kompatibel ist mit dem Rest Europas.»
Während andere Länder wie Frankreich oder Grossbritannien ihre Züge mit der europäischen Norm-Frequenz von 50 Hertz auf die Reise schicken, müssen die fünf «Pioniere» den Strom auf eine Frequenz von 16 2/3 Hertz transformieren.
Daher bezieht die SBB ihren Strom hauptsächlich aus den eigenen zehn unabhängigen Kraftwerken, die diesen über rund 1800 Kilometer Hochspannungsleitungen liefern.
Doppelt genäht hält besser
Ein weiteres Problem ist laut Weidmann, dass dieses Stromlieferungs-System die Form eines Sterns und nicht die eines Rings hat. Damit kann der Strom bei einem Unterbruch nicht auf einer anderen Leitung weitergeschickt werden.
Dies bestätigte Hansjörg Hess, Chef Infrastruktur bei den SBB. Das Unternehmen sei sich dieses «schwachen Punktes» bewusst. Man sei seit langer Zeit auf der Suche nach Lösungen.
Doch die Entwicklung dieser Art von Infrastruktur sei oft sehr teuer und brauche viel Zeit. Oft sei es eine Frage von Jahren, wenn nicht Dekaden.
Einsprachen aus Naturschutz-Kreisen
Laut Weidmann sind Einsprachen vor allem von privater Seite und nicht aus Naturschutz-Kreisen ein Hauptgrund für die Verzögerungen. Denn eine Hochspannungs-Ringleitung müsste über die Alpen gezogen werden.
Bereits in den 1980er-Jahren sei der Plan einer Leitung über den Gemmi-Pass wegen Einsprachen fehlgeschlagen. Weitere Projekte über den Nufenen-Pass oder zwischen Kerzers und Yverdon im Mittelland stiessen ebenfalls auf Widerstand.
«Dieses Problem wäre einfacher zu lösen, obwohl noch einige Hindernisse im Weg stehen», meint Weidmann. «Doch das ist etwas, das die Schweizer selber lösen müssen.»
swissinfo, Chris Lewis
(Übertragen aus dem Englischen: Christian Raaflaub)
Der Blackout begann wegen einem Kurzschluss in einer Hochspannungs-Leitung in der Innerschweiz.
Wegen Bauarbeiten waren die beiden anderen Leitungen abgeschaltet.
Daher wurde der Strom der Kraftwerke nördlich des Gotthards in den Süden (Tessin) geleitet, wo sich in der Folge das Netz wegen Überlastung automatisch abschaltete.
Nach dem grössten Blackout in der Geschichte der Schweizer Eisenbahnen betonen ausländische Unternehmen, in ihren Ländern könne dies nicht geschehen.
Die Debatte wird vermutlich den historischen Konflikt zwischen Eisenbahnern und Umweltschützern wieder entfachen.
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