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Stets den Koffer im Kopf

Zumindest über die Feiertage und während der Ferien zieht es die Arbeiter in ihre südliche Heimat - für immer kehrt nur ein Drittel zurück. Keystone

Migrantinnen und Migranten im Alter: Die Schweiz hat an der UNO-Alters-Konferenz in Madrid auf die Probleme dieser Menschen hingewiesen.

«In der Schweiz mit ihrem bedeutenden Anteil an ausländischer Bevölkerung sind die speziellen Probleme älterer Migranten zu berücksichtigen», sagte Bundesrätin Ruth Dreifuss, Leiterin der Schweizer Delegation, in Madrid.

Diese seien mitunter hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, ins Ursprungsland zurückzukehren oder aber in der Schweiz bei ihren Kindern und Enkeln zu bleiben.

Mangelnde Integration

«Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kamen Menschen», schrieb der Schweizer Schriftsteller Max Frisch 1965. In den Fabriken, auf dem Bau und in der Landwirtschaft herrschte in den 50er und 60er Jahren Mangel an wenig qualifizierten Arbeitern und Arbeiterinnen.

Aus diesem Grund wurden Arbeitskräfte aus Südeuropa geholt, vorwiegend aus Italien und Spanien – als Mitmenschen jedoch wurden sie lange Zeit nicht wahrgenommen. Für die Schweiz standen wirtschaftliche Interessen im Vordergrund.

Von einer Integration dieser Menschen sei lange Zeit kaum die Rede gewesen, sagt Urs Leuthold, Leiter der Arbeitsgruppe «Migration und Alter» in der Stadt Bern gegenüber swissinfo. Man rechnete damit, dass die ausländischen Arbeitskräfte wieder in ihre Heimat zurückkehren würden.

«Wir wissen inzwischen jedoch, dass etwa ein Drittel der ‹Gastarbeiter› hier in der Schweiz bleibt, ein Drittel wird in das Herkunftsland zurückkehren, und rund ein Drittel wird zwischen diesen beiden Heimaten hin- und herpendeln», so Leuthold.

Provisorium zwischen zwei Welten

Auch Guglielmo Grossi, Sekretär der Gewerkschaft Bau & Industrie, sieht in der verfehlten Integration seiner Landsleute das grösste Problem. «Aus einem Provisorium wurden Jahrzehnte, so dass diese Arbeiter noch immer hier sind.»

Weil die Italiener sehr zahlreich waren, lernten viele von ihnen die neue Sprache nicht. Zudem hatte diese Generation, die in den 60er Jahren einwanderte, eine sehr schlechte schulische Grundausbildung.

Schlechte Gesundheit und hohes Armutsrisiko

Laut Leuthold beziehen 28% der 55 – 64 Jährigen Ausländer eine Invalidenrente (bei den Schweizern sind es 12%), und 20% stufen ihre Gesundheit als schlecht ein (bei den Schweizern sind es 10%).

GBI-Sekretär Grossi kritisiert den Leistungsabbau bei den Sozialversicherungen in den letzten Jahren. Bei der Invaliden-Versicherung zum Beispiel werde zunehmend gespart, so dass viele IV-Bezüger nur noch knapp leben könnten.

Viele Gastarbeiter seien wegen ihrer harten Arbeit auf dem Bau körperlich und psychisch krank und hätten kaum Chance auf eine andere Arbeit. Viele seien verzweifelt, lebten an der Armutsgrenze und könnten auch nicht nach Italien zurückkehren. Einerseits weil die finanziellen Mittel fehlten, aber auch, weil sie dort keine Beziehungen mehr hätten.

Eine Nationale Armutsstudie aus dem Jahr 1997 belegt, dass ausländische Rentnerinnen und Rentner ein doppelt so hohes Armutsrisiko tragen wie AHV-Rentner mit Schweizer Pass.

Handlungsbedarf

Urs Leuthold erachtet es als wichtig, dass die Angebote im Altersbereich besser bekannt gemacht werden. «Die Ausländer kennen oftmals die Beratungsleistungen, die Bildungs- und Sportangebote für ältere Menschen nicht. Auch die Spitex, die spitalexterne Betreuung, sowie die Pflegeheime sind wenig bekannt.»

In der Stadt Bern finden die Kontakte vor allem über die Gewerkschaften und die Kirche statt. Eine gute Vernetzung sei äusserst wichtig, erklärte Leuthold.

Rückkehrwunsch – ein permanenter Begleiter

Viele ausländische Arbeitskräfte wollen im Alter in ihre Heimat, zu ihren Wurzeln zurückkehren. Gedanklich wird der Koffer immer wieder gepackt. Nur ein Drittel kehrt aber tatsächlich ins Ursprungsland zurück.

Laut dem Soziologen und Altersforscher François Höpflinger ist dieser Rückkehrwunsch oft eine Enttäuschung: Die ursprüngliche Heimat ist nicht mehr dieselbe wie zur Zeit der der Auswanderung. Das kann für die älteren Migranten, die ein Leben lang den Wunsch zur Rückkehr hatten, doppelt hart sein: die verlassene Heimat der Jugend existiert nicht mehr, aber auch die Schweiz ist keine echte Heimat geworden.

Alt in der Fremde oder unter Olivenbäumen alt werden

Guglielmo Grossi ist heute 56 Jahre alt – bald Zeit, ans Pensionsalter zu denken. «Während der Ferien pflege ich meine Olivenbäume und ernte die Früchte. Ich kann mir vorstellen, später längere Zeit in Rimini, meiner Heimatstadt, zu verbringen. Vorwiegend werde ich aber in der Schweiz leben, denn hier habe ich 40 Jahre gelebt, hier habe ich meine Interessen und meine Familie.»

Gaby Ochsenbein

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