Strassenkinder oder: Die Stadt als Wohnzimmer
In den Gassen Berns leben rund 100 Strassenkinder, ohne erwachsene Bezugspersonen und feste Übernachtungsmöglichkeit.
Die Geografin Andrea Staub hat das Phänomen der Strassenkinder in Bern zum ersten Mal vertieft untersucht.
«Ich bin mit zehn Jahren abgehauen, mit elf, mit zwölf, mit dreizehn. Danach kam ich kurz zu meiner Mutter nach Hause. Die kam mit mir nicht zurecht, kein Wunder. Danach hat sie mich hinausgeworfen, mitten im Winter. Wie alt war ich da? Vierzehneinhalb. Danach lebte ich zwei drei Monate auf der Strasse. Kein Heim, niemand wollte mich noch.» *
Leben im öffentlichen Raum
In Rio, Nairobi oder Kalkutta ja, aber in Bern? Strassenkinder in der Bundesstadt? Das gebe es durchaus, sagt Andrea Staub. Die Geografin und heutige Jugendbeauftragte der Stadt Burgdorf hat das Phänomen in ihrer Abschlussarbeit «Läbe uf der Gass» an der Universität Bern untersucht.
Anzutreffen sind Strassenkinder in Bern oft im Bahnhof oder in den Einkaufs-Strassen. Dort sind sie vom Nachmittag an am «Mischeln»: Sie betteln Passanten um Geld an, um sich damit Essen und Trinken, das Nötigste zum Leben, zu kaufen.
«Ihr Wohnort ist der öffentliche Raum, und die Gruppe ist ihre Familie», umreisst Staub das räumliche und soziale Umfeld von Jugendlichen auf der Gasse. Weil ihnen zudem eine feste Übernachtungsmöglichkeit fehle, müssten sie nachts Unterschlupf bei Kollegen oder in Wohngemeinschaften suchen.
Ausgerissen oder auf die Strasse gestellt
«Die meisten dieser Jugendlichen haben entweder Schule oder Lehre abgebrochen, weil sie genug von Autoritäten und einem fremd bestimmtem Leben hatten», erzählt Andrea Staub im Gespräch mit swissinfo. Zu Hause hätten sie es nicht mehr ausgehalten, beispielsweise wegen Drogensucht der Eltern oder Problemen mit den Pflegeeltern.
Das sei aber nur die eine Seite: Vier der acht Strassenkinder, mit denen Staub für ihre qualitative Studie ausgedehnte Gespräche geführt hatte, seien von Eltern oder Pflegeeltern auf die Strasse gesetzt worden. «So gesehen ist ihr Entscheid, auf der Strasse zu leben, nicht freiwillig erfolgt.»
Ob ausgerissen oder hinausgeworfen: Die Strassenkinder würden Autoritäten und Hierarchien ablehnen, nach den Grundsätzen der Selbstbestimmung und des Miteinanders leben wollen. Zum Beispiel in einem besetzten Haus oder auf einem Bauernhof auf dem Land.
Auszeit im «Zwischen-Raum»
Was die Jugendlichen bräuchten, seien «Zwischen-Räume» mit unkomplizierten und unbürokratischen Strukturen, sagt Oliviero Pettenati vom Verein «Kirchliche Gassenarbeit Bern». «Es geht für die meisten Jugendlichen darum, einen Mittelweg zu finden zwischen der autoritären Situation zu Hause und dem ‹anarchistischen› Leben auf der Gasse», charakterisiert er ihre Situation.
Sie bräuchten deshalb einen Ort, wo sie sich – in ihrem Tempo – neu orientieren könnten, so der Gassenarbeiter. «Denn der Rhythmus der Gasse lässt ihnen keine Zeit zur Selbstreflexion.»
Ohne bürokratische Hürden
Das Kontakt- und Betreuungs-Angebote der Kirchlichen Gassenarbeit Bern ist eine der wenigen Hilfestellungen, welche die Jugendlichen auf der Gasse in Anspruch nehmen. «Wir haben keinen Leistungsauftrag, wir nehmen keine Daten unserer Klienten auf und führen auch keine Statistiken über sie», umreisst Oliviero Pettenati das Konzept.
Weiterer Pluspunkt: Die Gassenarbeiterinnen und –arbeiter des Vereins arbeiten parteilich. «Wir unternehmen nichts, ohne dass die Klienten dafür ihr Einverständnis gegeben haben.» Auch unter diesen Bedingungen ist laut Pettenati eine Zusammenarbeit mit der Stadt oder anderen Behörden und Institutionen möglich.
Allen gemein: Probleme mit Bezugspersonen
Der Grund, wieso Kinder in Grossstädten Südamerikas, Afrikas oder Asiens auf der Strasse lebten, liegt für Andrea Staub in der dortigen Armut. Zudem gebe es viele Waisen, die auf der Strasse landeten. In der Schweiz stammten die Jugendlichen dagegen praktisch aus allen Schichten.
Die Jugendlichen hier wie dort hätten aber zum Beispiel drogensüchtige oder gewalttätige Eltern, Pflegeeltern oder Betreuungspersonen, welche sie misshandelten, missbrauchten oder sich sonst nicht genügend um sie kümmerten.
Betten und Beratungen
«Wir sind auf der Gasse präsent, deshalb kennt man einander gut», sagt Pettenati. Die Klienten müssten also nicht zuerst in ein Büro kommen. Der Verein biete ihnen juristische Beratungen und Abklärungen an, beispielsweise mit der Vormundschaftsbehörde. Ferner Übernachtungsmöglichkeiten sowie Kontakte zu medizinischen oder psychologischen Beratungsstellen.
Die Jugendlichen lebten meist mehrere Monate auf der Strasse. «Danach kehren sie wieder nach Hause oder in eine Institution zurück, tauchen in eine andere Stadt ab, oder haben eine Nische gefunden, beispielsweise in einem besetzten Haus», so Andrea Staub.
Betteln erlaubt
Für Jürg Stacher, Leiter des Dezernats der Stadtpolizei Bern, dem der Jugenddienst unterstellt ist, sind die bettelnden Strassenkinder in Bern kein Problem. Da Betteln vom Gesetz her erlaubt sei, habe die Polizei keinen Grund zu handeln.
Ganz junge Menschen auf der Gasse würden jedoch kontrolliert. «Falls die Person polizeilich gesucht wird, nehmen wir Kontakt mit den Eltern oder den zuständigen Ansprechpartnern auf.»
Anders als Staub glaubt Stacher, dass die Jugendlichen ihren Weg freiwillig wählten. «Aus der Not heraus müssen in Bern keine Jugendlichen im Freien unter einer Brücke übernachten.»
Arbeit an sich kein Problem
Um mit einem Klischee aufzuräumen: Viele der Jugendlichen auf der Gasse würden gerne arbeiten. Kaum in Frage kommt für sie jedoch ein Job, bei dem sie unter einem Vorgesetzten einfach «funktionieren» müssen. Lieber wird in hierarchiefreien Strukturen gratis gearbeitet, etwa in der Gassenküche.
Bei den Bemühungen, wieder in Ausbildung oder Beruf einzusteigen, gibt es laut Staub aber grundsätzliche Probleme: «Eine junge Frau musste feststellen, dass sie ohne festen Wohnsitz und ohne Telefon bei der Stellensuche keine Chance hat.»
swissinfo, Renat Künzi
* Zitat aus der Abschlussarbeit «Läbe uf der Gass» von Andrea Staub
Strassenkinder sind laut Andrea Staub junge Menschen (Minderjährige unter 18 Jahren), die von zu Hause geflüchtet sind oder dort vor die Tür gesetzt wurden.
Danach leben diese Jugendlichen im öffentlichen Raum, fern von ihren Bezugspersonen, auf sich gestellt und ohne feste Unterkunft.
Gemeinsam sind den Strassenkindern Probleme mit ihren Bezugspersonen (Eltern, Pflegeeltern, Erzieher, Betreuer).
In Bern leben rund 100 Strassenkinder.
Die meisten verbringen einige Monate auf der Gasse, bevor sie nach Hause oder in eine Institution zurückkehren – oder abtauchen in eine andere Stadt oder in einer Wohngemeinschaft Unterschlupf finden.
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