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Tiffanie Chan: «Die Regierungen müssen die Klimakrise angehen, nicht die Gerichte»

Blick in einen Saal des EGMR
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Schweiz wegen ihrer Untätigkeit im Bereich des Klimawandels verurteilt – ein Urteil mit weitreichenden Auswirkungen. Keystone/Christian Beutler

Die Gesetzgeber:innen in ganz Europa sollten das bahnbrechende Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegen die Schweiz aufmerksam verfolgen, meint Tiffanie Chan, Expertin für internationale Klimafälle. Die Entscheidung gegen die Schweiz ist vielleicht nicht die einzige, die für Aufsehen sorgt.

Die Schweiz tut nicht genug, um ihre Bürger:innen vor den negativen Auswirkungen des Klimawandels zu schützen. Das hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg entschieden. Anfang April rügte das Gericht die Regierung, weil sie die Grundrechte einer Gruppe Seniorinnen verletzte. Ältere Frauen sind besonders anfällig für Hitzewellen.

Es war das erste Mal, dass der EGMR über eine Klimaklage entschied, was Auswirkungen auf alle 46 Länder des Europarats und möglicherweise weltweit hat.

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Die Bedeutung dieses Falles kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, sagt Tiffanie Chan, politische AnalystinExterner Link am Grantham Research Institute on Climate Change and the Environment, gegenüber SWI swissinfo.ch. Das in London ansässige Institut veröffentlicht jährlich einen BerichtExterner Link über den Stand der Klimaprozesse in der Welt.

SWI swissinfo.ch: Was bedeutet das Urteil für laufende und zukünftige Klimaprozesse in Europa?

Tiffanie Chan: Der Entscheid des EGMR ist aus mehreren Gründen wichtig. Ein entscheidender Aspekt sind die möglichen Auswirkungen auf die Gesetzgebung. Es gibt nun eine eindeutige Bestätigung, dass die EMRK-Staaten eine positive Verpflichtung haben, auf nationaler Ebene einen verbindlichen Rechtsrahmen zum Schutz der Bürger:innen vor dem Klimawandel zu schaffen. Die nationalen Gesetzgebungsorgane in ganz Europa sollten dem Urteil grosse Aufmerksamkeit schenken.

In seinem Urteil stellt der Gerichtshof konkret fest, dass ein Staat, um seiner Verpflichtung aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) nachzukommen, einen ausreichenden Rechtsrahmen schaffen muss, der mit dem Pariser Abkommen und der Klimawissenschaft im Einklang steht und in den nächsten drei Jahrzehnten zur «Netzneutralität» führt.

Dieser Rahmen muss Zwischenziele für die Emissionsreduzierung enthalten und aufzeigen, wie das Land diese erreichen will – beispielsweise durch die Festlegung eines Kohlenstoffbudgets.

In Europa gibt es fast 30 Länder, die über einschlägige Gesetze verfügen oder dabei sind, solche auszuarbeiten. Diese Staaten müssen sicherstellen, dass ihre Gesetze den vom Gerichtshof festgelegten Mindeststandards entsprechen. Ist dies nicht der Fall, könnten sie Gegenstand eines Rechtsstreits werden.

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Sieben weitere KlimafälleExterner Link sind derzeit beim EGMR hängig. Welchen Fall sollten wir im Auge behalten?

Um nur einen Fall hervorzuheben: die Klage von Greenpeace gegen Norwegen. Es geht um die Öl- und Gasexploration in der Arktis. Nach Ansicht der Umweltorganisation verstösst die Vergabe neuer Lizenzen für die Öl- und Gasexploration durch die norwegische Regierung gegen Artikel 2 und 8 der EMRK.

Je nach Ausgang dieses Streits wird sich zeigen, inwieweit die Industrieländer in der Lage sind, im Rahmen ihrer Verpflichtungen aus dem Pariser Abkommen weiterhin neue Öl- und Gasfelder zu erschliessen.

Gibt es Fälle, die abgewiesen oder negativ beurteilt wurden – und die nun nach dem Urteil gegen die Schweiz erneut verhandelt werden könnten?

Das hängt von den Verfahrensvorschriften für den jeweiligen Fall ab. In Fällen, in denen das Urteil rechtskräftig ist, d.h. von der höchsten gerichtlichen Instanz erlassen wurde, ist eine Berufung wohl nicht möglich.

Tiffanie Chan
Tiffanie Chan ist Politikwissenschaftlerin am Grantham Research Institute on Climate Change and the Environment mit Sitz in London. zVg

Das EGMR-Urteil gegen die Schweiz bietet jedoch Chancen für laufende und neue Fälle. Das Strassburger Gericht stellte sehr deutlich fest, dass sich die nationalen Gerichte der Schweiz nicht angemessen mit den Argumenten der schweizerischen Klimaseniorinnen auseinandergesetzt haben. Sie haben ihre Entscheide nicht überzeugend begründet und die wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Klimawandel nicht angemessen berücksichtigt.

Dies ist wichtig, weil es in Europa noch andere Fälle gibt. So erklärte das Zivilgericht in Rom im März eine Klimaklage gegen den italienischen Staat für unzulässig. Italien wurde vorgeworfen, keine Massnahmen zu ergreifen, um die Ziele des Pariser Abkommens zu erreichen, und grundlegende Menschenrechte zu verletzen. Das Gericht erklärte, es sei nicht zuständig, den Fall zu prüfen.

Ich weiss nicht, wie es in diesem Fall weitergeht. Aber das Urteil des EGMR bedeutet, dass sich die nationalen Gerichte mit den Kernfragen befassen müssen, und die Gerichte könnten eher bereit sein, die EMRK im Lichte des Urteils im Schweizer Fall auszulegen.

Das Urteil hat viel Kritik ausgelöst. Die Schweizerische Volkspartei (SVP), die grösste Partei in der Schweiz, sagte, die Gerichte sollten sich auf die Justiz und nicht auf die Politik konzentrieren. Kann das Urteil als Eingriff in die Politik betrachtet werden?

Nein. Wenn man sich das Urteil ansieht, wird deutlich, dass das Gericht die Idee der Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative respektiert. Es ist der Staat, der das Pariser Abkommen unterzeichnet hat. Der Gerichtshof legt lediglich die Mindeststandards fest, die im Rechtsrahmen enthalten sein müssen, damit die Menschenrechte der Bürger:innen nicht verletzt werden.

Es sind die Schweiz und ganz allgemein die Regierungen, die Massnahmen ergreifen und die Klimakrise angehen müssen, nicht die Gerichte.

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Nehmen wir an, ich bin mit den Klimaschutzmassnahmen meines Landes unzufrieden. Welche Erkenntnisse aus dem Urteil des EGMR sollte ich berücksichtigen, bevor ich eine Klage einreiche?

Der erste Punkt ist, dass man alle nationalen Rechtsmittel ausgeschöpft haben muss. Das geht aus der Klimabeschwerde von sechs jungen Portugiesen hervor [Duarte Agostinho and Others v. Portugal and 32 Other StatesExterner Link, Anm. d. Red.]. Man muss zuerst die nationalen Gerichte durchlaufen, denn der Staat sollte die Möglichkeit haben, das Problem zu lösen, bevor es vor den EGMR geht.

Die zweite Lektion ist, dass NGOs und Menschen, die sich zusammengeschlossen haben, mit grösserer Wahrscheinlichkeit erfolgreich sein werden als Einzelpersonen und die Voraussetzungen für die Einreichung solcher Klagen erfüllen.

Im EGMR-Urteil wurde der schweizerischen Vereinigung der Klimaseniorinnen die Klagebefugnis zuerkannt, den einzelnen Klägerinnen jedoch nicht. Die Messlatte für Einzelpersonen, die nachweisen müssen, dass sie persönlich und direkt betroffen sind, liegt hoch.

Drittens: Prüfen Sie, ob Ihr Land die vom Gerichtshof festgelegten Mindeststandards erfüllt hat. Gibt es einen Zeitplan für die Erreichung der Kohlenstoffneutralität, Zwischenziele für die Emissionsreduzierung und Belege dafür, dass der Staat dabei ist, diese durch die Umsetzung einschlägiger Gesetze und Massnahmen einzuhalten?

In diesem Jahr werden drei internationale Gerichtshöfe – der Internationale Gerichtshof, der Internationale Seegerichtshof und der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte – beratende Stellungnahmen zu den Verpflichtungen der Staaten im Zusammenhang mit der Klimakrise abgeben. Was können wir erwarten?

Diese drei internationalen Gerichtshöfe und der EGMR haben nicht unbedingt die gleichen Verfahrens- und Auslegungsregeln.

Ein Punkt, auf den wir meiner Meinung nach achten sollten, ist die Frage, was Staaten tun müssen, um Menschen ausserhalb ihrer Grenzen zu schützen. Der EGMR räumte in der Rechtssache Agostinho ein, dass Treibhausgasaktivitäten im Hoheitsgebiet eines Staates das Wohlergehen von Menschen ausserhalb seiner Grenzen beeinträchtigen können.

Er entschied aber, dass es nicht möglich sei, festzustellen, dass die EMRK den Staaten «extraterritoriale Verpflichtungen» auferlegt, um Menschen in anderen Teilen der Welt vor dem Klimawandel zu schützen.

Dieses Konzept steht nicht im Einklang mit einer früheren Stellungnahme des UNO-Ausschusses für die Rechte des Kindes und des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte.

In diesem Jahr werden die drei internationalen Gerichte wahrscheinlich Gelegenheit haben, die Frage der Extraterritorialität weiter zu beleuchten. Es wird interessant sein zu sehen, ob sie jeweils unterschiedliche Auslegungen haben werden. Das jüngste Urteil war wohl kaum das letzte Wort in der Frage, was Staaten tun müssen, um Menschen jenseits ihrer Grenzen zu schützen.

Editiert von Sabrina Weiss, Übertragung aus dem Englischen: Giannis Mavris

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Debatte
Gastgeber/Gastgeberin Luigi Jorio

Was tut Ihr Land, um Sie vor den Auswirkungen des Klimawandels zu schützen?

Der EGMR hat entschieden, dass die Schweiz die Menschenrechte ihrer älteren Bürger verletzt, weil sie nicht genug gegen den Klimawandel unternommen hat.

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