Trauriger Rekord: Suizid mit Schusswaffen
Die Schweiz hält einen traurigen europäischen Rekord: In keinem anderen Land werden so viele Suizide durch Schusswaffen begangen wie in der Schweiz. Auffällig ist, dass auch die Zahl bewaffneter Haushalte überdurchschnittlich hoch ist.
Einen Tag vor der Eröffnung des diesjährigen World Economic Forums (WEF) in Davos hat sich der WEF-Sicherheitschef mit seiner Dienstwaffe das Leben genommen.
Dieser publik gewordene Suizid mit einer Schusswaffe – er hat in breiten Kreisen der Bevölkerung grosse Betroffenheit ausgelöst – ist kein Einzelfall: Im Zeitraum zwischen 1996 und 2005 wurden in der Schweiz 3410 Suizide mittels Schusswaffen begangen.
Laut einer Studie aus dem Jahr 2006, die den prozentualen Anteil der Schusswaffensuizide im Vergleich zu allen Suizidmethoden erhoben hat, liegt die Schweiz direkt hinter den USA, die mit knapp 57% die Liste «anführen».
Finnland und Norwegen folgen mit 20% auf den Plätzen drei und vier. In Deutschland, weiter unten auf der Liste, sind es knapp 8% und in Spanien 5,5%. In der Schweiz werden zwischen 24 und 28% der Suizide mit Schusswaffen begangen. Damit hält die Schweiz einen europäischen Rekord.
Suizid mit einer Schusswaffe ist eine Methode mit hoher Letalität (Sterblichkeit). In 90% der Fälle führt Erschiessen zum Tod. Die Folgen von misslungenen Versuchen sind fatal.
Während Frauen eher Methoden mit geringer Letalität wählen (Selbstvergiftung oder Verletzung durch einen scharfen Gegenstand), greifen Männer häufiger auf Methoden mit hoher Letalität, wie eben Schusswaffen.
Von Männern «bevorzugt»
Suizid durch Schusswaffen ist die häufigste Methode in der Schweiz, wobei fast nur Männer zu dieser Methode greifen: 95% aller Schusswaffensuizide werden durch Männer verübt. Unter den suizidwilligen Männern wählen ein Drittel diese Methode.
Vladeta Ajdacic-Gross, Soziologe und Oberassistent an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, sieht für den Unterschied zwischen den Geschlechtern zwei Gründe: «Einerseits ist die Verfügbarkeit entscheidend und anderseits, dass man mit der Methode umgehen kann», sagt er.
«Schweizer Daten zeigen, dass Frauen viel schlechter mit Waffen umgehen können als Männer. Deshalb benutzen sie auch keine Waffen, um sich zu suizidieren», sagt der Forscher. Er ist auch Mitarbeiter der eingangs erwähnten Studie.
In dieser Studie wurde auch der Anteil bewaffneter Haushalte erhoben. Gemäss diesen Zahlen waren im Jahr 2000 35,7% aller Haushalte bewaffnet, das heisst, die Verfügbarkeit ist in der Schweiz überdurchschnittlich hoch.
Hohe Waffendichte in Schweizer Haushalten
Wie das Genfer Forschungsinstitut «Small Arms Survey» in einer Studie aus dem Jahr 2007 erhoben hat, lagern in Schweizer Privathäusern schätzungsweise 3,4 Millionen Schusswaffen.
Das Eidgenössische Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) hingegen geht von rund 2,2 Millionen Schusswaffen aus (im Jahr 2007). Davon sind 535’000 Armeewaffen (235’000 als persönliche Ausrüstung aktiver Armeeangehöriger, 245’000 in Eigentum abgegeben und 55’000 als Leihwaffe für Schützen und Jungschützen).
Der Gedanke liegt nahe anzunehmen, dass die meisten Schusswaffensuizide – weil vor allem Männer zu dieser Methode greifen – mit der Armeewaffe verübt werden. Ajdacic-Gross geht davon aus, dass etwa 40% der Schusswaffensuizide mit Ordonnanzwaffen verübt werden. Die anderen Waffen seien solche, die legal in Waffengeschäften erworben wurden.
Ist die Anzahl der Schusswaffensuizide deshalb so hoch, weil auch die Anzahl bewaffneter Haushalte so hoch ist? Für den Forscher besteht ein klarer Zusammenhang zwischen der Verfügbarkeit von Schusswaffen (Anzahl bewaffneter Haushalte) und Schusswaffensuiziden.
Verfügbarkeit der Methode entscheidend
Die Zahlen der Studie, an der Ajdacic-Gross mitgearbeitet hat, zeigen, dass Länder mit einem hohen Anteil an bewaffneten Haushalten auch einen hohen Anteil an Schusswaffensuiziden aufweisen.
«Bei der Wahl einer Methode ist die Verfügbarkeit entscheidend», sagt der Forscher. «Ein leichter Zugang zu letalen Mitteln erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass jemand dazu greift.»
«Was in der Schweiz die Schusswaffen sind, sind in Entwicklungsländern Pestizide, weil sie dort zugänglich sind», erklärt er. «Viele Suizide sind flüchtiger Natur, impulsiver Art. Das heisst, der Entscheid fällt in einer sehr kurzen Zeitspanne.»
In solchen Momenten spiele die Verfügbarkeit eine entscheidende Rolle. «Muss jemand Anstrengungen unternehmen, um zu einem letalen Mittel zu kommen, ist das ein starker präventiver Faktor», sagt Ajdacic-Gross.
In seiner Studie hat sich gezeigt, dass die Schusswaffensuizide in den Ländern Norwegen, Kanada oder Australien markant zurückgegangen sind. In diesen Ländern sind gesetzgeberische Massnahmen zur Reduktion der Verfügbarkeit von Schusswaffen erfolgt.
Doch werden mit einer Einschränkung der Verfügbarkeit tatsächlich Suizide verhindert? Greifen die Betroffenen nicht auf andere Methoden zurück?
Methode ist nicht einfach auswechselbar
«Man weiss, dass es ein Ausweichen auf ähnliche Methoden gibt», erklärt Ajdacic-Gross. «Will sich jemand mit Medikamenten suizidieren, wird er jedoch kaum als Alternative auf eine Schusswaffe zurückgreifen.»
Dahinter stehe ein bestimmtes Verhaltensmuster, das nicht einfach so ausgewechselt werden könne. «Bei den Schusswaffen ist es so, dass es ein Ausweichen auf die ebenfalls hohe letale Methode Erhängen gibt», sagt er.
Aus der Forschung wisse man, dass die Hälfte bis zu zwei Drittel auf eine andere Methode ausweiche, falls die erste nicht verfügbar sei. «Präventive Massnahmen können sicher nicht alle Suizide verhindern, aber eine grosse Anzahl.»
Sandra Grizelj, swissinfo.ch
Täglich nehmen sich drei bis vier Menschen das Leben.
Dies entspricht einer Suizidrate von 19.1 pro 100’000 Einwohnerinnen und Einwohnern.
Pro Jahr sterben vier Mal mehr Menschen durch Suizid als durch Verkehrsunfälle, nämlich zwischen 1300 und 1400 Menschen. Im Strassenverkehr starben im Jahr 2008 357 Personen.
In über 90% aller Suizide liegt eine psychiatrische Erkrankung vor, bei 60% eine Depression.
Die Schweiz hat kein nationales Suizidpräventions-Programm. Verschiedene (kantonale) Stellen und Institutionen sind in der Suizidprävention aktiv.
Folgende präventive Massnahmen stehen im Vordergrund:
Bevölkerung und Öffentlichkeit für das Thema sensibilisieren.
Multiplikatoren informieren (Fachpersonen wie Hausärzte, Lehrer, Pfarrer usw.).
«Risikogruppen» erkennen und informieren (z.B. Menschen mit psychischen Krankheiten, Verwitwete, Inhaftierte usw.).
Zugang zu Methoden einschränken (Verfügbarkeit von Schusswaffen verringern, kleiner Medikamentenpackungen, Netze bei Brücken u.ä.).
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