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Versiegt der Golfstrom bald? Das sagt die Wissenschaft

Surfer am Strand in Biarritz
Surfer in Biarritz, Frankreich. Die Atlantische Umwälzströmung (AMOC) ist die Strömung, die weitgehend für das warme Klima in Europa verantwortlich ist. Keystone-SDA

Ein System von Atlantikströmungen, das für die Regulierung des europäischen Klimas entscheidend ist, hat in den letzten 60 Jahren keine Anzeichen eines Rückgangs gezeigt, so eine neue Studie von Wissenschaftler:innen aus der Schweiz und den USA. Das bedeutet aber nicht, dass die Sorgen über den Zusammenbruch des Golfstroms unbegründet sind.

Die Studie untersuchte das «globale Förderband», ein System von Strömungen, das als Atlantic Meridional Overturning Circulation (AMOC, auf Deutsch: Atlantische Umwälzströmung) bekannt ist.

Der Golfstrom ist Teil der AMOC, und beide sind Teil eines zusammenhängenden Systems, das grosse Mengen Wasser aus den Tropen in nördliche Regionen bringt. Die Ergebnisse bieten neue Einblicke in ein alarmierendes – und unsicheres – Gebiet der Klimaforschung.

Europa verdankt sein mildes Klima weitgehend den Strömungen im Atlantik. Der Strom warmen Wassers aus der Nähe des Äquators nach Europa hält Städte wie London um mehrere Grad wärmer als Orte in ähnlichen Breitengraden an der Pazifikküste von Kanada. Die AMOC sorgt auch für die Verteilung von Sauerstoff und Nährstoffen im Ozean.

Neue Studie: «Kein klarer Trend» bei Schwächung der AMOC

In den letzten Jahren haben zahlreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen vor der Schwächung oder gar dem möglichen Zusammenbruch des Golfstromsystems gewarnt, weil die Auswirkungen der Erderwärmung auf das System immer deutlicher werden. Eine neue, in Nature Communications veröffentlichte StudieExterner Link von Wissenschaftler:innen der Universität Bern und der Woods Hole Oceanographic Institution in den USA kommt nun zum Schluss, die Strömung war in den letzten 60 Jahren stabil.

Mithilfe einer neuartigen Methode, die 24 Erdsystemmodelle und beobachtungsbasierte Schätzungen des Wärmeflusses zwischen Ozean und Atmosphäre im Nordatlantik einbezieht, fanden sie heraus, dass sich die AMOC zwischen 1963 und 2017 nicht verlangsamte.

«Unsere Rekonstruktionen zeigen eine beträchtliche Variabilität, aber es lässt sich kein klarer Trend erkennen», sagt Hauptautor Jens Terhaar von der Universität Bern.

Das bedeutet jedoch nicht, dass die AMOC in Zukunft nicht abnehmen oder zusammenbrechen wird.

Die AMOC wird zweifelsohne sehr bald durch den Klimawandel geschwächt werden oder wurde vielleicht sogar in den Jahren nach 2017 geschwächt, nachdem die Rekonstruktionen des Schweizer Teams geendet haben, sagt Terhaar. Aber da die Strömung bis 2017 stabil war, ist ein vollständiger Zusammenbruch in naher Zukunft weniger wahrscheinlich, fügt der Wissenschaftler hinzu.

«Die AMOC wird sich deutlich abschwächen, das ist so gut wie sicher, und die Folgen werden äusserst gravierend sein», sagt Terhaar. «Es bleibt jedoch ungewiss, wie gross diese Abschwächung sein wird und wann es zum Zusammenbruch kommen wird.»

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Neue «robuste» Methodik

Ein grosses Problem für die Wissenschaftler:innen ist das Fehlen direkter Beweise. Genaue Messungen mit Instrumenten, die mitten im Ozean getaucht wurden, gibt es erst seit 2004. Daher verlassen sich die Forschenden traditionell auf eine Kombination von Daten – steigende Oberflächentemperaturen des Ozeans, sinkender Salzgehalt und Satellitenbilder – um Modelle der AMOC zu erstellen.

In seiner Arbeit stellte das schweizerisch-amerikanische Team die Verwendung der Meeresoberflächentemperaturen als Stellvertreter für die Stärke der AMOC in Frage. Wie einige andere Studien bereits gezeigt haben, werden die Anomalien der Oberflächentemperatur im Nordatlantik nicht nur von der AMOC, sondern auch von anderen Prozessen im Ozean und in der Atmosphäre beeinflusst.

«Man braucht wirklich einen starken Rückgang der AMOC, um dies in den Meeresoberflächentemperaturen deutlich zu sehen. Andernfalls gibt es zu viele andere Prozesse, die die Oberflächentemperaturen zusätzlich zur AMOC beeinflussen», sagt Terhaar.

Veränderungen des Wärmeflusses zwischen dem Ozean und der Atmosphäre sind ein viel effektiverer Indikator, denn «dort findet die Hauptveränderung statt». Obwohl dieser Wärmestrom ein besserer Indikator ist, sind Schätzungen des Wärmestroms unsicherer als Messungen der Meeresoberflächentemperatur, was zu grossen Unsicherheiten führt.

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Die Forschenden behaupten zwar, dass ihre neuen Rekonstruktionen zuverlässiger sind als frühere, aber sie haben auch «Einschränkungen und Vorbehalte». Dazu gehören die Unsicherheiten, die mit beobachtungsbasierten Schätzungen verbunden sind. Auch Prozesse wie die Eisschmelze in Grönland werden in den Modellen möglicherweise nicht berücksichtigt.

«Stark unterschätztes Risiko»

Laut Terhaar hat die Veröffentlichung bisher «positive, herausfordernde und konstruktive» Reaktionen von Fachkolleg:innen erhalten.

Pascale Lherminier, eine Ozeanographie-Forscherin am Ifremer (Französisches Institut für Ozeanwissenschaften und Technologie), war nicht an der Studie beteiligt. Sie sagt, die Methodik sei äusserst solide.

«Die Verknüpfung der Wärmeflüsse an der Luft-Meer-Grenzfläche mit der AMOC macht viel mehr Sinn als die Verknüpfung der Ozeanoberflächentemperatur mit der AMOC», sagte sie der Nachrichtenagentur AFP.

Warnungen vor einem möglichen Zusammenbruch der Strömung aufgrund der KlimaerwärmungExterner Link sind nicht neu. Jüngste alarmierende Studien, die auf eine Schwächung des Golfstromsystems hindeuten und den Kipppunkt bereits für die Jahre 2025 bis 2095 schätzenExterner Link, haben Schlagzeilen gemacht, sind aber auch in der wissenschaftlichen Gemeinschaft umstritten.

Im Oktober warnten rund 40 führende Wissenschaftler:innen in einem offenen BriefExterner Link vor dem «stark unterschätzten Risiko» einer «grossen Veränderung» der AMOC. Eine Schwächung der Strömung könnte «verheerende und irreversible Auswirkungen» auf das Klima und die biologische Vielfalt haben.

Die Forschenden schreiben, dass die nordischen Länder aufgrund der starken Abkühlung und noch nie dagewesener Wetterextreme stark betroffen wären. Aber auch für andere Regionen gäbe es Folgen, etwa eine Verschiebung der tropischen Niederschlagsgürtel, eine geringere Fähigkeit des Ozeans, CO2 zu absorbieren, und einen Anstieg des Meeresspiegels, insbesondere an der amerikanischen Atlantikküste.

In seiner letzten Bewertung im Jahr 2021 kam der Weltklimarat (Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC), der praktisch den wissenschaftlichen Klimakonsens festlegt, zum Schluss, dass die AMOC in diesem Jahrhundert nicht zusammenbrechen wird.

«Die AMOC wird sich im Laufe des 21. Jahrhunderts sehr wahrscheinlich abschwächen, obwohl ein Zusammenbruch sehr unwahrscheinlich ist. Dennoch bleibt eine erhebliche Abschwächung der AMOC ein physikalisch plausibles Szenario», heisst es in dem sechsten BewertungsberichtExterner Link.

Editiert von Veronica De Vore/gb, Übertragung aus dem Englischen mit der Hilfe von Deepl: Janine Gloor

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