Vier Kunst-Schaffende treffen auf einen Kurator
Neben Pipilotti Rist wird die Schweiz an der 51. Kunstbiennale von Gianni Motti, Shahryar Nashat, Marco Poloni und Ingrid Wildi vertreten.
Konzipiert und realisiert wurde die Gruppenausstellung «Shadows Collide With People» von dem Luzerner Künstler Stefan Banz.
Die multimediale Raum-Installation «The Regulating Line» von Shahryar Nashat, die 50-teilige Fotoarbeit «Permutit» von Marco Poloni, die Videoprojektion «Portrait oblique» von Ingrid Wildi sowie die Aktion-Installation von Gianni Motti im Aussenraum des Pavillons beziehen sich in unterschiedlicher Weise auf die Metapher im Titel der Ausstellung. Sie alle spürten dem Verhältnis von Bild und Wirklichkeit, von Institution und Publikum, von Kunst und Gesellschaft nach, wie das Bundesamt für Kultur (BAK) mitteilt.
Die Realität lesen
Wie findet sich das Individuum im multiplen Gefüge der postmodernen Realität zurecht? Dieser Fragestellung geht der Italo-Schweizer Marco Poloni in seinen Foto- und Video-Installationen auf den Grund.
Der 42-jährige Künstler aus Genf, der zur Zeit am «School of the Art Institute of Chicago» unterrichtet, stellt den Menschen ins Zentrum seiner Installationen. Und dies als Objekt und Subjekt zugleich, indem er die Dargestellten in Wechselwirkung mit den Betrachtenden arrangiert.
«Mit geht es darum, Identität als vielfältiges, sich stetig wandelndes soziales Konstrukt zu hinterfragen», erklärt Poloni. «Auf diese Weise will ich zeigen, wie eine kollektive Realität entsteht oder vielmehr, wie wir eine solche Realität lesen, interpretieren und dadurch auf uns selbst übertragen.»
Sein Status als Doppelbürger habe kaum Auswirkungen auf seine Kunst, sagt Poloni. «Schweizer oder Italiener bin ich beim Denken und Essen, nicht aber beim Arbeiten.» Zu seinem Biennale-Beitrag verrät er nur so viel: «ein Storyboard zu einem ungedrehten Film über Staatsangestellte in den USA».
Filmerin und Emigrantin
Sprache ist zentrales Element in den Video-Essays von Ingrid Wildi. Die Künstlerin fragt, Menschen erzählen ihr Geschichten. Geboren wurde Wildi 1963 in Chile, seit 1981 lebt sie in der Schweiz. Die Emigration beschäftigt sie bis heute.
Im Genfer Atelier hängt ein Foto: Eine alte Frau steht vor einer Hausmauer, lächelt. Sie trägt eine Plastiktasche. Darin stecke ein Strickzeug, sagt Ingrid Wildi. Die Frau ist ihre Mutter. Sie heisst Eliana M..
Sie hat die Familie verlassen, als Ingrid ein Kind war. Nun strickt sie für Ingrid Wildis Nichte einen Pullover. «Einzelne Fäden werden ein Ganzes – wie in meinen Filmen», sagt Wildi. Sie hat ihre Mutter in Chile gesucht und gefunden. Entstanden ist der Film «Aquí vive la señora Eliana M…?», ein Film über «die Landschaft Chiles, meine Familie und anderer Leute».
«Ich bin eine emigrierte Künstlerin mit einer doppelten Identität: Ich bin Chilenin und Schweizerin», sagt Wildi. Die Emigration, das Verschwinden und das Auftauchen am neuen Ort, ist ihr zentrales künstlerisches Thema geblieben. An der Biennale in Venedig zeigt sie ein neues Video-Essay, einen ihrer puzzleartigen Filme zwischen Dokumentation und Fiktion.
Räume entschlüsseln
Allzu lange bleibt Shahryar Nashat selten am selben Ort. Der 30-jährige Romand iranischer Abstammung reist, um zu entdecken und das Gefundene auf seine tiefere Bedeutung hin zu untersuchen.
Als er zwei Jahre jung war, wurde aus Persien der Gottesstaat Iran, und seine Familie floh aus Teheran nach Genf. Abrupte Veränderungen und sich daraus ergebende Perspektivenwechsel prägen auch das künstlerische Schaffen von Shahryar Nashat thematisch wie stilistisch.
Gegenwärtig lebt er in Paris. «Ich suchte nach einem Gegensatz zu Rom, wo ich mich zuvor aufhielt», sagt er zu seinem aktuellen Wohnsitz. «Hier kommt es zu neuen, zufälligen Begegnungen, die mir unbekannte Räume öffnen.» Diese gelte es dann zu entschlüsseln, erklärt Nashat.
Ebenso «zufällig» wählt er seine Ausdrucksmittel. «Erst wenn ich mit der Umsetzung einer konkreten Idee beginne, kann ich mich auf ein Medium oder eine Technik festlegen», erklärt er, der mit Film und Fotos, mit Texten und Geräuschen experimentiert. «Vor einigen Wochen habe ich ein Video im Louvre gedreht und kann es kaum erwarten, dieses in Venedig zu zeigen.»
Motte im Kunstpelz
Wäre der 1958 im Veltlin geborene Wahlgenfer Gianni Motti Fussballspieler, er würde jeden Elfmeter verwandeln. Wie mit dem fiktiven Torhüter springt er mit dem Kunstpublikum um: Er erwischt es immer auf dem falschen Fuss.
Mottis ironische Aktionen provozieren Empfindlichkeiten, stellen Werte oder Institutionen in Frage, enttäuschen Erwartungen. Im Zürcher Migros Museum baute er er einen 500 Meter langen Parcours ohne Kunst, den er von Securitas-Leuten bewachen liess. So führte er den Kunstbetrieb ad absurdum, degradierte das Museum zum leeren Durchgangsort. «Einleuchtende Verweigerung» hiess die Arbeit.
Das war subversiver Witz im Sinne des Dadaismus, wo Mottis Wurzeln liegen. Aber Motti geht noch weiter, bis an die Grenzen des so genannten guten Geschmacks oder darüber hinaus. So schreckte er 1989 nicht davor zurück, in Spanien inmitten einer Prozession zu Ehren der Santa Marta sein eigenes Begräbnis zu simulieren. Verletzung religiöser Gefühle? Die nahm er bewusst in Kauf.
«C’est quoi, la vérité?» Auch diese Frage stammt von Gianni Motti. In Venedig, wo er seine Arbeit im Hof des Schweizer Pavillons installieren wird, dürfte er wohl auch fragen: «C’est quoi, l’identité?» Eine klare Antwort sollte man nicht erwarten, ansonsten wäre man wohl schon düpiert.
swissinfo und Frank von Niederhäusern und Karl Wüst, sfd
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