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Voll im Trend: «Komasaufen» und «Kampftrinken»

Trinken bis zum Umfallen scheint bei einem Teil der Jugend zum Breitensport zu werden. Keystone

Wett-Trinken von Jugendlichen, die oft mit einer Alkoholvergiftung enden, nehmen zu, obwohl der Alkoholkonsum der Jugend seit 2002 ein wenig abgenommen hat.

So finden drastische Alkoholexzesse von Teenies ihren Weg immer wieder in die Schlagzeilen, wie auch der Tod eines 16-Jährigen, der Ende März nach einem Wett-Trinken in Berlin starb.

Glas für Glas im Minutentakt: In der Schweiz landen im Durchschnitt jeden Tag drei bis vier Jugendliche im Spital, weil sie zu lange und zu tief ins Glas geschaut haben. «Das ist eindeutig zu viel», sagt die Psychologin Annik Scheidegger gegenüber swissinfo. Sie arbeitet für die Abteilung Suchtprävention beim Blauen Kreuz des Kantons Bern.

In der Statistik tauchen nur jene Jungen – und in letzter Zeit auch immer mehr Mädchen – auf, die nach einem Koma- oder Kampfsaufen im Spital landen. Scheidegger vermutet zusätzlich eine hohe Dunkelziffer.

Schweizer Studien belegen jedoch, dass der Alkoholkonsum von 2002 bis 2006 nicht zugenommen hat – im Gegenteil. «Das Rauschtrinken ist jedoch etwas Neues. Das ‹Auf-Einmal-über-die-Grenzen-Raustrinken› gab es früher weniger, das ist eine neue Erscheinung», erklärt die Psychologin.

Aus diesem Grund will sie auch nicht von einer Entschärfung der Situation sprechen, denn das Problem habe sich lediglich ein wenig verlagert.

Überforderung und Aufmerksamkeitsdefizite

Zunehmende Überforderung und verstärkter Leistungsdruck sind laut der Psychologin für den exzessiven Alkohol-Konsum der Jugendlichen mitverantwortlich. «Sie wollen in ihrer Freizeit Grenzen sprengen um abzuschalten und Spass zu haben, sagen sie meistens, wenn man sie fragt.»

Scheidegger macht aber auch auf krasses Fehlverhalten der Eltern aufmerksam: Manche der betroffenen Eltern reagierten praktisch überhaupt nicht, wie wenn das Verhalten ihres Sprösslings eine Selbstverständlichkeit wäre. «Genau das, was die Jugendlichen brauchen würden, das Gespräch mit ihnen über das warum und wieso oder das Setzen von Grenzen, das passiert leider nicht allzu oft.»

Denn die Jugendlichen suchten oft nach Aufmerksamkeit, was die Eltern häufig gar nicht richtig wahrnähmen und sie realisierten auch nicht, wie ernst die Situation ihrer Sprösslinge wirklich sei.

Im internationalen Mittelfeld

Zwischen 1986 und 2002 hatte sich unter den 15-Jährigen die Zahl derer verdoppelt, die bereits mehrfach betrunken waren. Der Anteil jener, die bereits Erfahrungen mit Cannabis gemacht hatten, hatte sich gar verdreifacht.

Gemäss den Zahlen von 2002 befindet sich die Schweiz bei den 11 – 15-Jährigen im Mittelfeld von 35 europäischen Staaten. «Die 11-Jährigen Schweizer Jugendlichen trinken im internationalen Vergleich beim wöchentlichen Alkoholkonsum wenig, sie sind im unteren Bereich. Die 13-Jährigen bewegen sich im unteren Mittelfeld, die 15-Jährigen jedoch im oberen Mittelfeld, auf Platz 12 von 35», erklärt Emmanuel Kuntsche von der sfa, der Schweizerischen Fachstelle für Alkohohl- und andere Suchtprobleme.

Die seit 2002 konstatierte rückläufige Tendenz bei der konsumierten Gesamtalkoholmenge durch Jugendliche in der Schweiz bestätigt sich offenbar auch im Ausland, obwohl dazu noch keine offiziellen Zahlen vorliegen.

Bildung, Familie und Milieu

Alkohol-Probleme haben auch etwas mit dem Bildungsniveau zu tun. Kuntsche: «Wir haben Neuntklässler befragt, bei denen noch nicht so grosse Bildungsunterschiede bestehen», so Kuntsche. «Sicher trinken auch Gymnasiasten manchmal zu viel, Primar- und Sekundarschüler betrinken sich jedoch tendenziell öfter.»

Wichtiger als die Schulnoten ist für Kuntsche der Einfluss der Familie. Er nennt dabei die Einstellung der Eltern zum Alkoholkonsum, wie viel sie selber trinken, wie motiviert sie gegenüber ihren Kindern sind, wie sie ihre Kinder beaufsichtigen.

«Es gibt aber immer eine Interaktion, eine Wechselbeziehung zwischen dem Elternhaus, dem Freundeskreis und der weiteren Umgebung, in der die Kinder aufwachsen», sagt Kuntsche. «So können durchaus auch Kinder aus so genannt ‹guten Familien› in Cliquen geraten, die einen schlechten Einfluss auf sie ausüben.»

Aber auch schlechte Lehrer, Frustrationen in der Schule spielen manchmal eine wichtige Rolle. «Man kann zwar viele Risikofaktoren nennen, aber schlussendlich kommt es darauf an, wie der Jugendliche mit der Konstellation der Schutz- und Risikofaktoren, die er nun mal hat, umzugehen weiss», sagt Kuntsche.

Die Wissenschaft nennt aber auch noch weitere Faktoren, die zu einem exzessiven Gebrauch von Rausch- oder Suchtmitteln führen können: Individuelle Einflüsse wie Temperament, Extrovertiertheit, Risikobereitschaft aber auch Stoffwechselstörungen oder genetische Veranlagungen für Alkoholismus.

swissinfo, Etienne Strebel

Stadium 1 (1-2 Promille): Gleichgewicht und Schmerzwahrnehmung vermindert, gerötete Augen, Sprache leicht undeutlich, Enthemmungs-Erscheinungen.

Stadium 2 (2-2,5 Promille): Muskelschlaffheit, verengte Pupillen, Gedächtnisverlust, ev. auch Aggressivität.

Stadium 3 (2,5-4 Promille): Schockzustand, Bewusstlosigkeit, erweiterte Pupillen

Stadium 4 (ab ca. 4 Promille): Koma, Schockzustand, weite und reaktionslose Pupillen, Verlust der Spontanatmung, Unterkühlung, Tod.

Alkohol beeinträchtigt die Reaktionszeit, die Erkenntnis- und Informations-Verarbeitung, Koordination und Aufmerksamkeit.

Damit steigt auch das Verletzungs- und Unfallrisiko.

Langfristig wirkt exzessiver Alkoholkonsum auf fast alle menschlichen Organe schädigend.

Zudem wird starker Alkoholkonsum in Verbindung gebracht mit Familien- und arbeitsplatzbezogenen Problemen, Aggressionen sowie Gewalt- und Straftaten.

Eine Untersuchung an Studenten zeigt, dass übermässiger Alkoholkonsum für ein Absinken der akademischen Leistungen, Sachbeschädigungen, Gedächtnisverluste, ungewolltes Sexualverhalten oder belastete oder zerstörte Freundschaften verantwortlich sein kann.

In der Schweiz haben rund 300’000 Personen schwere Alkoholprobleme.

Übermässiger Alkoholkonsum fügt der schweizerischen Volkswirtschaft jährliche Schäden von gegen 7 Mrd. Fr. zu.

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