Was ist von den Genfer Squattern übrig geblieben?
Genf unterschied sich von anderen Schweizer Städten lange Zeit durch den liberalen Umgang mit der Hausbesetzer-Szene. Diese Haltung gehört jedoch der Vergangenheit an.
Die Squatter-Bewegung habe die Grenzen der Eigentumsrechte und die Notwendigkeit der Mitgestaltung des Wohnraums durch die Bewohner deutlich gemacht, sagt der Soziologe Luca Pattaroni gegenüber swissinfo.
Vergangene Woche wurde in Genf ein besetztes Haus geräumt. Ein ähnliches Schicksal droht auch dem «Rhino», dem ältesten besetzten Haus der Rhonestadt. Dies zeigt, dass bei den Behörden ein anderer Wind weht, und sie sich gegenüber illegalen Hausbesetzungen nun anders verhalten.
Seit den 80er-Jahren prägt eine behördliche Toleranz das Verhalten gegenüber Squattern. Dank ihr entwickelte sich Genf innerhalb der Schweiz und auch Europa zu einem Spezialfall.
Luca Pattaroni, Forscher im stadtsoziologischen Labor der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL), entschlüsselt diese alternative Wohn-Erfahrung.
swissinfo: Neigt sich die Genfer Hausbesetzer-Szene ihrem Ende entgegen?
Luca Pattaroni: Ohne politische Unterstützung riskiert die Squatter-Bewegung ihre Auflösung. Doch könnte sie in anderer Form wieder auferstehen, wie die kulturellen Manifestationen, die sie hervorbrachte.
swissinfo: Kennen auch andere Schweizer Städte ähnliche Phänomene?
L.P.: Besetzte Häuser gibt es auch in Zürich, Basel, Lausanne oder Freiburg. Doch mehr als zehn besetzte Liegenschaften pro Stadt gab es nie, nicht einmal in den Blütezeiten der autonomen Zentren in den 80er-Jahren.
Genf mit seinen bis zu 160 besetzten Häusern während der 90er-Jahren ist also ein Spezialfall.
swissinfo: Was unterscheidet die Genfer Squats von den Besetzungen in anderen Städten?
L.P.: Die Behörden tolerierten Hausbesetzungen innerhalb gewisser Grenzen, was seit den 80er-Jahren solche Squats gefördert hat. Man liess eine Besetzung von leerstehenden städtischen und kantonalen Immobilien zu, auf der Basis von Vertrauensverhältnissen. Es wurde auf die Räumung besetzter Häuser verzichtet, egal ob sie in privatem oder öffentlichem Besitz standen.
Diese Toleranz war die Folge der politischen Auseinandersetzungen der 70er-Jahre und des Widerstandes gegenüber den Umbau-Absichten im Bereich der Quartierplanung, die als technokratisch und einwohnerfeindlich erachtet wurden.
swissinfo: Die Hausbesetzer-Szene ist also in erster Linie eine politische Bewegung?
L.P.: Sie entwickelte sich in der ganzen Stadt als Antwort auf die Immobilien-Spekulation. Deshalb hatte sie auch einen breiten Rückhalt in der Bevölkerung und bei Linksparteien. So wurden illegale Aktionen auf rechtlicher Ebene legitimiert.
Und diese politische Legitimität von damals ist genau das, was der heutigen Besetzerszene in Genf abgeht.
swissinfo: Aber die Bewegung hat andere Formen angenommen?
L.P.: Gegenüber der sehr militanten Zürcher Szene haben sich die Genfer Squatter in ihrer Vielfalt abgehoben.
Drei Arten haben sich in Genf herausgebildet: Der Flucht-Squat für Sozialfälle und Sans Papiers, der Polit-Squat für Leute mit trotzkistischem und anarchistischem Hintergrund, die sich gegen den privaten Besitz auflehnen, und der Kultur-Squat, der zu einer reichen Kulturszene geführt hat.
Aus diesem Milieu entstand unter anderem das Theater Malandro d’Omar Porras, das heute in ganz Europa bekannt ist.
Im Alltag mischen sich diese drei Squat-Arten, was nicht ganz spannungsfrei abläuft.
swissinfo: Wer sind denn diese Squatter?
L.P.: Zu Beginn waren es hauptsächlich Studierende aus der Linken und der Nach-68er-Bewegung, unterstützt von Lehrlingen. Zu ihnen gesellten sich später Einwanderer aus Lateinamerika und Mittelosteuropa.
Darunter fanden sich auch Sprösslinge aus privilegierten Familien. Doch Untersuchungen haben gezeigt, dass die meisten Squatter auch heute noch sehr bescheiden leben und aus den verschiedensten Milieus stammen.
swissinfo: Wie sehen Sie die Zukunft dieser Leute?
L.P.: Es sind Menschen, die sich die Frage stellen, wie das Recht auf Wohnen mit dem Recht auf Privat-Eigentum zu vereinen ist. Squatter fordern vielfältige Wohnformen.
Dieses Problem betrifft auch die Mieter. In der Schweiz wagen es viele Mieter nicht, sich aktiv bei der Raumaufteilung ihres Wohnsitzes einzubringen. Es geht auch um eine aktivere Beteiligung der Bürger an der städtischen Politik.
Die Entwicklung geht in Richtung Wohn-Gemeinschaften, weil diese die Zustimmung der konservativen Volksvertreter haben. Diese Wohnart ist in der Deutschschweiz bereits sehr verbreitet.
In Zürich entfallen 18% aller Mietwohnungen auf Wohn-Gemeinschaften, wobei ein Mitmachen der Bewohner an der Ausgestaltung und Funktion des Gebäudes mit Elementen eines gemeinschaftlichen Lebens kombiniert wird.
swissinfo-Interview, Frédéric Burnand, Genf
(Übertragung aus dem Französischen: Alexander P. Künzle)
Die Genfer Hausbesetzer-Bewegung hat ihre Wurzeln in den 70er-Jahren, als diese Protestart auch in New York, Berlin, Amsterdam oder Kopenhagen aufkam.
Es ging um den Versuch, alternative Lebensformen zu entwickeln.
In der Squatter-Hochblüte der 90er-Jahren zählte man an der Rhone bis 160 von rund 2000 Personen besetzte Liegenschaften. Heute sind es nur noch 27.
In südlichen Ländern versteht man unter Squat hingegen besetzten Boden mit selbst erstellten Bauten, in denen die Allerärmsten hausen.
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