«Weitere Streiks? Wir werden sehen …»
In der Schweiz ist ein sozialpolitisch heisser Herbst angesagt. swissinfo hat mit Vasco Pedrina gesprochen, dem kämpferischen Chef der Gewerkschaft Bau und Industrie (GBI).
Ist der traditionelle Arbeitsfrieden in der Schweiz gefährdet?
swissinfo: Zur Zeit stehen das Thema Pension und generell die Sozialversicherungen zur Debatte. Wie schätzen Sie nach der grossen Gewerkschafts-Kundgebung vom 20. September die Lage ein? Wie antworten Sie den Leuten, die Angst um ihre Rente haben?
Vasco Pedrina: Die Kampagne von Innenminister Pascal Couchepin und der Freisinnig-demokratischen Partei (FDP) hat die Leute verunsichert. Sie verbreitet Angst unter den Menschen. Couchepin und seine FDP hoffen, dass ihre absurden Vorschläge wie die Erhöhung des Pensionsalters auf 67 akzeptiert werden.
Es stimmt zwar, dass die Bevölkerung immer älter wird. Aber die Ausgaben für eine höhere Zahl von Rentnern können im Rahmen eines einfachen wirtschaftlichen Wiederaufschwungs gedeckt werden. Falls die Zyklen zwischen wirtschaftlichem Hoch und Tief so sein werden wie in den letzten 30 Jahren, dann gibt es keine Probleme.
Falls der wirtschaftliche Aufschwung nicht eintreffen sollte, müssen in anderen Sektoren Sparmassnahmen ergriffen werden. Die durchschnittlichen Renten betragen 1700 Franken monatlich. Es wäre absurd, hier zu sparen.
Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass heute die Arbeitnehmer immer früher entlassen werden. Die alten Arbeitnehmer gelten für die Unternehmen als Last und werden bereits zwischen 55 und 60 Jahren aus dem Arbeitsprozess ausgeschieden. Wo, bitte sehr, sollen dann, wie das Couchepin vorschlägt, 66- bis 67-Jährige noch Arbeit finden?
swissinfo: Welches sind Ihre Vorschläge zur zukünftigen Sicherung der Sozialversicherungen?
V.P.: Lassen Sie mich vorerst eines sagen: Es herrscht Desinformation. Viele glauben, dass die AHV, die Alters- und Hinterbliebenen-Versicherung, in den roten Zahlen steckt. Das ist nicht wahr! Während ihrer jetzt bereits 50-jährigen Existenz hat die AHV praktisch immer schwarze Zahlen geschrieben. Die finanzielle Sicherung der AHV ist einzig und allein eine Frage des politischen Willens.
Zur Wiederankurbelung der Wirtschaft muss man eine antizyklische Politik machen. Wir, die Gewerkschaften, fordern ferner Abkommen mit den Unternehmern, wonach die Lohnabhängigen mindestens bis zum 60. Altersjahr arbeiten können.
Schliesslich sollten wir die Anzahl der aktiven Bevölkerung erhöhen. Dazu gehört eine entsprechende Familienpolitik, eine bessere Integration der Frauen ins Erwerbsleben und, wenn nötig, mehr ausländische Arbeitskräfte.
swissinfo: Wieso ist die Schweizer Wirtschaft innerhalb der Mitgliedstaaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in den letzten zehn Jahren am wenigsten gewachsen?
V.P.: Die lange Krise in den 90er Jahren ist vor allem auf die restriktive Geldpolitik der Schweizerischen Nationalbank zurückzuführen.
Heute müsste der Staat in der Wirtschaftspolitik eine viel aktivere antizyklische Rolle übernehmen, um den Aufschwung zu begünstigen. Liberalisierung und Privatisierung sind genau die falschen Rezepte. Die Neoliberalen predigen dies nun schon seit 15 Jahren, aber die Wirtschaft stagniert weiter. Mit ihrer Position wollen sie die Lohnabhängigen unter Druck setzen.
swissinfo: Wie beurteilen Sie die Arbeit der Bundesräte Pascal Couchepin und Joseph Deiss, seit einem Jahr Innen- beziehungsweise Wirtschaftsminister?
V.P.: Wir sind ziemlich sauer. Couchepin hat in kürzester Zeit alles in Frage gestellt, was in der Vergangenheit zur Verteidigung des Sozialstaates erreicht wurde. Besonders beunruhigt uns der Angriff auf die wesentlichen Errungenschaften der Gewerkschaftsbewegung, wie zum Beispiel die AHV.
Auch Deiss hat uns enttäuscht. Wir befinden uns in einer wirtschaftlichen Rezession, die Arbeitslosigkeit wächst – über 200’000 Menschen suchen eine Stelle – , und der Wirtschaftsminister verfügt keine einzige Massnahme zum Wiederaufschwung. Wir haben einen Investitionsbonus zur Förderung infrastruktureller Aktivitäten verlangt, aber Deiss hat unser Ansinnen im Namen der neoliberalen Logik zurückgewiesen.
swissinfo: In Kürze finden die Parlamentswahlen statt. Wie nützlich sind für die Gewerkschaften sozialdemokratische Vertreter in Parlament oder Regierung? Oft bekämpfen die Gewerkschaften Restrukturierungs- oder Liberalisierungspläne (Post, Elektrizitätsmarkt), die von SP-Leuten unterstützt oder gar vorgeschlagen werden.
V.P.: Wir führen eine autonome Politik für die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Häufig werden wir vom progressiven Flügel der SP unterstützt, zum Beispiel in den Bereichen soziale Sicherheit, Krankenkassen oder Wirtschaftspolitik. Dennoch ist es wahr, dass wir mit den Sozialisten nicht immer zufrieden sind, vor allem mit den Departements-Vorstehern oder den Direktoren der öffentlichen Betriebe.
Falls nötig, kämpfen wir auch gegen sie. Wir schauen nicht auf ihre Parteimitgliedschaft. Für uns sind einzig und allein die Interessen jener Leute entscheidend, die wir vertreten.
swissinfo: Sprechen wir von Europa. Was halten Sie von der Erweiterung des Personenfreizügigkeits-Abkommens auf die neuen EU-Staaten?
V.P.: Wir sind dafür. Aber wir verlangen, dass die Leute aus diesen Ländern, die zu uns arbeiten kommen, die gleichen Löhne erhalten wie alle hier. In Polen beispielsweise ist der Lohn in der Industrie siebenmal tiefer als in der Schweiz. Solche Arbeitsbedingungen dürfen nicht hierher importiert werden.
Also: Öffnung ja, aber unter klaren Bedingungen. Wir wollen keinen Druck auf die Löhne und die soziale Sicherheit in der Schweiz.
swissinfo: Wie sehen für Sie heute die Beziehungen zwischen Gewerkschaften und Unternehmern aus?
V.P.: In der heutigen Situation von Wirtschaftskrise und Degeneration «à l’américaine» ist das Klima zwischen den Sozialpartnern nicht besser geworden. Die Beziehungen sind gespannter. Aber es ist von Sektor zu Sektor unterschiedlich.
Im Management der Unternehmen gibt es heute eine neue Generation, die stark geprägt ist von neoliberalen Ideologien und brutalen Methoden. Die alte Generation von «paternalistischen» Unternehmern mit einem Sinn für soziale Verantwortung stirbt langsam aus.
Die neuen Manager folgen einer Logik, die der Sozialpartnerschaft zuwider läuft. Konflikte und Streiks häufen sich wegen der Verhärtung der Arbeitgeber. Der soziale Frieden zahlt sich für die Wirtschaft aus, aber er ist nicht gratis zu kriegen.
swissinfo: Am 4. November letzten Jahres hatte ein nationaler Streik zu einem Abkommen über Frühpensionierung in der Bauwirtschaft geführt. Sind angesichts der aktuellen schwierigen Situation weitere solche Aktionen geplant?
V.P.: Am 20. September haben wir damit bereits begonnen – mit der grössten nationalen Gewerkschafts-Kundgebung der letzten Jahrzehnte. Wenn die Regierung ihre Politik im Bereich der Sozialversicherungen nicht überdenkt, wird das weitere Folgen von unserer Seite haben.
Eine Verschärfung der Aktionen und der Kampfformen ist also durchaus vorstellbar. Zu gegebener Zeit werden wir unsere Entscheidungen treffen. Dabei berücksichtigen wir selbstverständlich auch die allfällige Kampfbereitschaft der Lohnabhängigen. Wir haben bereits gezeigt, dass wir nicht nur mit Streikmassnahmen drohen, sondern diese auch erfolgreich durchführen können.
swissinfo-Interview: Marzio Pescia
(Übertragung aus dem Italienischen: Jean-Michel Berthoud)
Vasco Pedrina (52) ist seit 1991 Präsident der Gewerkschaft Bau und Industrie (GBI).
Die GBI ist mit über 100’000 Mitgliedern und 240 Gesamt-Arbeitsverträgen die gewichtigste Schweizer Arbeitnehmer-Organisation.
Pedrina ist auch Vizepräsident des Gewerkschaftsbundes SGB und sitzt im Bankrat der Nationalbank.
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