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«Wer eine Studie finanziert, nimmt immer Einfluss»

Steigt das Krebsrisiko bei Kindern in der Nähe von AKWs? Auch Axpo und BKW sind an der Antwort interessiert. Keystone

Die Gesuche für neue Atomkraftwerke lancieren die Risiko-Diskussion neu. Für Schlagzeilen sorgte eine deutsche Studie über Leukämie in der Nähe von AKWs. In der Schweiz wurde eine ähnliche Studie in Auftrag gegeben, mit Geld der AKW-Betreiber.

Im Dezember 2007 sorgte eine vom deutschen Bundesamt für Strahlenschutz in Auftrag gegebene Studie für Aufsehen.

Die Studie – es ist nicht die erste zu diesem Thema – zeigt, dass in der Nähe von AKWs deutlich mehr Kinder an Krebs beziehungsweise Leukämie erkranken. Gemäss den Autoren kann der kausale Zusammenhang jedoch nicht bewiesen werden.

Im September 2008 haben nun das Bundesamt für Gesundheit (BAG) und die Krebsliga die Studie «Childhood Cancer and Nuclear Powerplants in Switzerland» (Canupis) in Auftrag gegeben.

Durchgeführt wird sie vom Kinderkrebsregister in Zusammenarbeit mit dem Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern und der Schweizerischen Pädiatrischen Onkologiegruppe. Die Ergebnisse werden voraussichtlich 2011 veröffentlicht.

Die Wissenschafter stehen vor einer grosse Herausforderung: Die Studie will die Gesamtheit der zwischen 1985 und 2007 geborenen Kinder miteinbeziehen. Ausserdem soll nicht nur der Wohnort berücksichtigt werden, an dem die krebskranken Kinder zum Zeitpunkt der Diagnose wohnten, sondern auch frühere Wohnorte.

Steuergelder sparen

Brisant an der Studie ist: Die beiden Stromproduzenten und AKW-Betreiber Axpo und BKW sind finanziell mit je 100’000 Franken daran beteiligt (Kosten insgesamt: 820’000 Franken).

Weshalb hat das BAG die AKW-Betreiber als Auftraggeber akzeptiert? Die beiden Unternehmen hätten sich an einer Klärung der Frage und auch an einer finanziellen Unterstützung interessiert gezeigt, sagt Werner Zeller, Leiter Abteilung Strahlenschutz beim BAG, gegenüber swissinfo. Das BAG sei darauf eingetreten unter der Bedingung, dass diese absolut keinen Einfluss auf die Studie nehmen.

«Wenn die Industrie gewillt ist mitzufinanzieren, stellt sich die Frage, ob man dafür Steuergelder aufwenden will», so Zeller.

«Keine Interessenvertreter»

Sorgen darüber, dass die Unabhängigkeit der Studie durch die Co-Finanzierung mit BKW und Axpo gefährdet sein könnte, macht sich Zeller keine. «Die Studie wird von einem internationalen wissenschaftlichen Expertengremium begleitet. Damit können wir sicherstellen, dass die Industrie keinen Einfluss auf die Studie hat.»

Auch Claudia Kuehni, Leiterin des Schweizer Kinderkrebsregisters, ist überzeugt davon, dass die Co-Finanzierung der beiden AKW-Betreiber keine Auswirkungen auf die Untersuchungsergebnisse hat. «Wir haben bisher keinerlei Druck gespürt», sagt sie.

Es gebe auch keinen Grund an der Unabhängigkeit der Wissenschafter zu zweifeln, sagt Zeller. «Wir haben bewusst in unser Advisory Board weder Interessenvertreter aus der Nuklearindustrie noch Nuklearindustrie-Gegner eingeladen, um eine rein wissenschaftliche Arbeitsweise zu fördern», sagt auch Kuehni.

Ein schwieriges Unterfangen. Vor diesem Hintergrund erstaunt es umso mehr, dass sich der BAG-Direktor Thomas Zeltner vor rund 15 Jahren für eine Inseratekampagne der Atommülllobby-Vereinigung Vera (Verantwortung für die Entsorgung radioaktiver Abfälle) ablichten liess.

Politik und Wissenschaft

Für Martin Walter, Arzt und Vorstandsmitglied der Schweizer Sektion der internationalen atomkritischen Ärzteorganisation (IPPNW), ist klar: «Man muss aufpassen, es geht hier nicht nur um Wissenschaft, sondern auch um Politik.»

Gemäss Walter gibt es keine neutrale Finanzierung. «Wer eine Studie finanziert, hat direkt oder indirekt immer Einfluss». Man sehe das ja bei Medizin und Pharmabranche, wo Studienergebnisse, die negativ sind für gewisse Medikamente, einfach nicht publiziert würden, sagt er.

Walter ist erstaunt darüber, dass im Advisory Board keine Wissenschafter des «Comittee on Medical Aspects of Radiation in the Environment» (Comare) vertreten sind. «Von diesen Leuten, die sich epidemiologisch sehr intensiv mit Leukämien in England befassten, ist niemand dabei.»

Referendum möglich

Gemäss Axpo und BKW geht es bei der finanziellen Unterstützung keineswegs um Einflussnahme. «Wir instrumentalisieren die Studie nicht», sagt Axpo-Pressesprecherin Daniela Biedermann. BKW-Pressesprecher Sebastian Vogler spricht diesbezüglich von «reinem Mäzenat».

Die Methoden bei der deutschen Studie seien umstritten gewesen, sagt Vogler weiter. «Wir sind angewiesen auf eine Studie, auf die man sich verlassen kann.».

2012 wird voraussichtlich im National- und Ständerat über die geplanten AKWs debattiert. Falls ein Referendum zustande kommt, befindet das Volk 2013 oder 2014 an der Urne über die neuen AKWs.

Für die Gesuchssteller steht viel auf dem Spiel: Wenn aus der Studie ein höheres Krebsrisiko für Kinder hervorgehen würde, die in der Nähe von AKWs wohnen, könnte das den AKW-Gegnern starken Auftrieb geben.

swissinfo, Corinne Buchser

Die deutsche Studie hat in der Schweiz die Diskussion über ein nationales Krebsregister neu entfacht.

In der Schweiz werden heute in diversen Kantonen Krebsregister geführt.

In den Kantonen Aargau (Beznau I und II, Leibstadt), Bern (Mühleberg) und Solothurn (Gösgen), in denen AKWs in Betrieb sind, gibt es jedoch keine solchen Register.

Der Schweizer Arzt Pierre Morin hat 1994 eine Dissertation über Kinderleukämie in der Schweiz verfasst. Dabei befasste er sich auch mit der Frage, ob Atomkraftwerke Krebs verursachen.

Morin fand im Kanton Solothurn eine Häufung von Leukämiefällen. Morin stellt dort eine «signifikant erhöhte» Inzidenzrate» fest: Zwischen 1984 und 1991 wurden im Kanton Solothurn 29 Fälle gezählt.

Von 100’000 Kindern werden demnach jährlich 9,3 Kinder von akuter Leukämie oder Lymphknotenkrebs befallen. Dieser Wert ist fast doppelt so hoch wie der schweizerische Durchschnitt von 5,37 Kindern pro Jahr.

Die Energieunternehmen Axpo und BKW haben am Donnerstag beim Bundesamt für Energie (BFE) zwei Rahmenbewilligungsgesuche für den Ersatz der Atomkraftwerke Beznau I und II sowie Mühleberg eingereicht.

Im Juni 2008 hatte bereits die Atel Holding ein Gesuch für ein neues Atomkraftwerk im solothurnischen Niederamt in der Nähe des bestehenden AKW Gösgen eingereicht.

Zusammen mit den Eingaben der Axpo und der BKW prüft das BFE nun drei Projekte.

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