Wie erdbebensicher sind Schweizer Atomkraftwerke?
Die Beschädigung eines japanischen Atomkraftwerks durch ein Erdbeben nährt Sicherheitszweifel. Das hat die Diskussion um die Sicherheit der Schweizer Atomkraftwerke neu lanciert.
Diese gelten zwar als sicher. Die Befürworter der Nuklarenergie geben jedoch zu, dass die Gefahren eines starken Erdstosses bisher unterschätzt worden sind.
Es sei nicht nur das grösste, es gehöre auch zu den sichersten Kernkraftwerken der Welt, waren die japanischen Behörden bis zum 16. Juli überzeugt. Und so hat man, als in Japan die Erde zu beben begann (6,8 Grad auf der Richterskala), nicht an mögliche Beschädigungen des Kernkraftwerks von Kashiwazaki-Kariwa gedacht. Galt es doch als erdbebensicher.
Aus dem Kraftwerk trat radioaktives Material aus, das sich trotz der beschwichtigenden Mitteilungen der japanischen Elektrogesellschaft Tepco als ernste Gefahr für Umwelt und Gesundheit herausstellte.
In der Schweiz gibt es eine starke Unterstützung der Kernkraft und viele hoffen auf einen baldigen Bau eines neuen Atommeilers. Können jedoch Zwischenfälle wie jener in Japan ausgeschlossen werden?
Sichere Kraftwerke, aber nicht zu 100 Prozent
Für Markus Straub von der Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlagen (HSK) ist das Risiko eines starken Erdstosses bei uns – ein Ereignis, das von Seismologen nicht ausgeschlossen wird – extrem klein.
Es gebe keine absolute Sicherheit, gibt Straub zu, «aber für die Kernkraftwerke in unserem Land können wir versichern, dass sie einem hohen Sicherheitsstandard aufweisen». Ausserdem befänden sich die Kraftwerke ausserhalb der am meisten gefährdeten Erdbebenzonen (Wallis und Basel).
Im Fall eines Erdbebens mit der selben Intensität wie jenes in Japan könne man das Ausströmen von radioaktivem Material praktisch ausschliessen. Schwierig abzuschätzen ist die maximale Stärke eines Erdstosses, dem die Anlagen in der Schweiz noch standhalten können. «Es kommt auf die Lage des Epizentrums und auf die Erdbeschleunigung in der Nähe eines Kraftwerks an», erklärt Straub.
«Wenn ich wüsste, dass sich ein Erdbeben ereignet, würde ich mich in ein Kraftwerk flüchten, weil das die sichersten Gebäude der Schweiz sind», fügt der HSK-Mitarbeiter hinzu.
Unterschätztes Risiko
Trotz Markus Straubs Vertrauen hat die HSK Anfang Juli eine Studie zur seismischen Sicherheit publiziert, deren Schlussfolgerungen einige Zweifel aufgeworfen haben.
Das Forschungsprojekt «Pegasus» ergab nämlich, dass das Erdbeben-Risiko für die fünf Schweizer KKW höher ausfällt als im ersten Moment angenommen.
Von der Energie-Kommission des Nationalrats wurde diese Folgerung mit «Erstaunen» zur Kenntnis genommen. Diese kritisierte in der Folge die Informationspolitik des HSK.
«In der Vergangenheit wurde das Risiko unterschätzt», bestätigt der Direktor des Schweizerischen Erdbebendienstes (SED), Domenico Giardini. Denn es wurde aufgrund von Parametern errechnet, die aus den 70er-Jahren stammen.
Erdbeben werden als gefährlicher eingeschätzt
«Damals schätzte man das Erdbeben-Risiko auf rund 20% des gesamten Risikoprofils eines KKW», so Giardini gegenüber swissinfo. «Heute hingegen beläuft sich der Risiko-Anteil eines Erdbebens auf 80 bis 85%.
Dies heisse natürlich nicht, darauf besteht der Seismologe, dass diese Kraftwerke unsicher seien, oder dass früher die Energiebranche nachlässig gewesen sei.
«Es sind vor allem unsere Kenntnisse, die sich vertieft haben. Anders als vor 30 Jahren wissen wir heute, dass gewisse Beben bei gleicher Stärke grössere Schäden auslösen können als andere.»
In der Debatte um die Fortführung der kernkraftgetriebenen Energie, ob bestehende Kraftwerke renoviert und/oder neue gebaut werden sollen, ist die Gefahr eines Erdbeben-Schadens laut Domenico Giardini ein wichtiges Element, das miteinbezogen werden muss.
«Dabei ist wichtig zu wissen, dass es einfacher ist, ein neues KKW zu bauen als ein altes zu modernisieren», erklärt der SED-Direktor.
Ausserdem sähen die Anforderungen in der Schweiz vor, dass keine neuen Kernkraft-Werke projektiert werden dürfen, wenn die Wahrscheinlichkeit eines atomaren Schadeneintritts grösser als 1 zu 100’000 ist.
swissinfo, Luigi Jorio
(Übertragung aus dem Italienischen: Etienne Strebel, Alexander Künzle)
In der Schweiz werden 5 Atomkraftwerke betrieben:
Beznau I und II im Kanton Aargau (in Betrieb seit 1969 und 1972), Mühleberg (Bern, 1972), Gösgen (Solothurn, 1978) und Leibstadt (Aargau, 1984).
Der prozentuale Anteil der Atomenergie an der gesamten Stromproduktion der Schweiz liegt im Jahresmittel bei 38% (im Winter bis 45%). Jahresmittel in Europa: 33%.
Die neue im Februar vorgestellte Energiestrategie der Landesregierung sieht den Bau eines neuen Kernkraftwerks vor. Für den Bundesrat ist die Kernenergie nötig um dem ab 2020 drohenden Energiemangel zu begegnen. Sie scheint auch eine Option zur Senkung der CO2-Emissionen zu sein, im Gegensatz zu Gaskraftwerken.
Das am 1. Februar 2005 in Kraft getretene neue Kernenergiegesetz verlangt, dass der Bau neuer Kernkraftwerke dem fakultativen Referendum unterstellt ist.
Das Erdbeben mit der Stärke 6,8 auf der Richterskala, das am Montag die Nordostküste Japans erschütterte, hat offiziell 9 Todesopfer gefordert und fast 1000 Verletzte. Zehntausende mussten evakuiert werden.
Der Erdstoss, der stärkste seit 2004, verursachte einen Zwischenfall bei einem Transformator im Kernkraftwerk von Kashiwazaki, wo 1200 Liter kontaminiertes Wasser austraten. Experten haben am Donnerstag ein weiteres Leck entdeckt.
Das Kraftwerk bleibt voraussichtlich 1 Jahr geschlossen.
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