Wilhelm Tell gibt keine Antwort (mehr)
"Tell, bitte melden!" Ein interdisziplinäres Symposium fragte in Schwyz nach dem "Mythos Tell – Held oder Phantom?"
Künstler, Wissenschafter, Politiker und Wirtschaftsvertreter diskutierten darüber, ob der urchige Nationalheld in der heutigen Schweiz überhaupt noch eine Existenzberechtigung habe.
Der Schweizer Ikone Wilhelm Tell wird in diesem Jahr, dem 200sten Bühnenjubiläumsjahr von Friedrich Schillers «Wilhelm Tell», viel Aufmerksamkeit geschenkt.
Gemäss einer Umfrage vom Sommer hält gut die Hälfte der Schweizerinnen und Schweizer Wilhelm Tell für eine reale Figur der Geschichte. Von dieser Hälfte war letzte Woche im Forum der Schweizer Geschichte in Schwyz niemand anwesend.
Die Symposiumsteilnehmer teilten vielmehr die Ansicht, Wilhelm Tell sei eine Sagengestalt, die in Wirklichkeit nie gelebt habe. Und damit war der Konsens denn auch schon erschöpft. Schnell stellte sich heraus: Alle der knapp 70 anwesenden Frauen und Männer waren mit eigenen Ansichten und Deutungen des Nationalhelden nach Schwyz gereist.
Tell-Mythos als Selbstbedienungsladen
Für den Historiker Jean-François Bergier, bekannt als Präsident der nach ihm benannten «Unabhängigen Expertenkommission Schweiz Zweiter Weltkrieg» und Autor von «Wilhelm Tell. Realität und Mythos», dem Standardwerk zum Tell-Mythos, sagte: «Tell ist ein Selbstbedienungsladen für Werte aller Art. Jeder Gedanke, jedes Objekt kann ihn auf seine Fahne schreiben.»
So bezeichnete der Sozialethiker Hans Jürgen Münk Tell als «unpolitischen Geburtshelfer einer neu entstehenden Nation». Tell sei ein einsamer Held, belegte er mit einem Zitat aus Schillers Tell: «Der Starke ist am mächtigsten allein.»
Jüngere Symposiumsteilnehmer machten aus ihrem Herzen keine Mördergrube. Für den Journalisten und Philosophen Stefan Zweifel sieht der Tell aus wie ein Kindermörder oder Kinderschänder.
Und Petra Huth von der Credit Suisse machte dem Tell sogar sein Heldentum abspenstig: «Eigentlich ist der Sohn der Held. Er musste sich hinstellen, mit dem Apfel auf dem Kopf.»
Tyrann oder Volksheld?
Ja, was ist nun richtig? Ist Tell ein Aufrührer und Revolutionär, ein Terrorist und Tyrannenmörder oder ist er der Volksheld, dem die Schweiz ihre Unabhängigkeit zu verdanken hat?
«Heute wäre Tell ein Terrorist. Man stelle sich einen muslimischen Tell vor…», meinte Journalist und Architekt Benedikt Loderer. Zudem sei Tell Opfer eines Generationen-Konfliktes, sagte Loderer, ein Vertreter der 68er-Generation: «Wir liebten Tell nicht, weil er unseren Vätern gehörte.»
Kurz, knapp und trocken meinte die Historikerin Regula Schmid-Keeling: «Für mich hat die Tell-Geschichte keinen Sinn mehr.»
In Tells Stammlanden scheint der Nationalheld jedoch tiefer verwurzelt. Die rot-grüne Urner Landrätin Annalies Russi erklärte, in ihrem Kanton sage man noch heute von einem schönen Mann: » Das isch denn öppe en Täll!» (Das sei dann ein Tell!)
Mythos, Kunst und Wahrheit
Für Robert Nef, den Leiter des Liberalen Institutes in Zürich, ist die Wirksamkeit des Mythos viel wichtiger als die Frage, ob Tell wirklich gelebt hat. Die Künstlerin Lisa Schiess fügte hinzu: «Wir brauchen Mythen. Sie sind Quellen für die Poesie.»
Für den Direktor von Pro Helvetia, Pius Knüsel, ist Tell «eine Leerstelle, die wir immer neu füllen müssen». Tell sei nur als Typ, nicht jedoch als Biographie fassbar. Knüsel: «Der Mythos gehört uns allen.»
Er vergleicht Tell mit Westernhelden, «die ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen»: Sein Fazit: «Es gibt keine Helden und auch keine Mythen ohne Kunst.» Die Kunst brauche keine Helden sondern Jubiläen. «Denn bei solchen Gelegenheiten werden die Künstler anständig bezahlt.»
Helden als Aushängeschild
Johannes Matyassy, CEO von «Präsenz Schweiz», der Agentur, die sich mit dem Bild der Schweiz im Ausland beschäftigt, ist überzeugt: «Der Mythos Tell lebt in der Schweiz und in Menschen, die sich mit dem Thema auseinandersetzen.»
Der «Präsenz Schweiz»-Chef hielt weiter fest, dass es keine Helden gebe. Helden würden gemacht. Um die Schweiz im Ausland zu vertreten oder für sie zu werben, sei Tell nicht die richtige Figur.
Dieser Ansicht widersprach der ehemalige Luzerner Verkehrsdirektor, Kurt Illy, energisch. Er propagierte, dass man Wilhelm Tell vermehrt als Brand, als Marke für die Werbung der Schweiz im Ausland brauchen sollte.
«Tell kann als sympathischer Vertreter der Schweiz und als Vertreter des Schweizer Tourismus benützt werden», meinte Illy. «Und dazu hat man ja auch noch die Musik von Rossini, die auch sehr sympathisch und gut wirkt. Ohne Copyright zu bezahlen könnte man den Tell und die entsprechende Musik ins Ausland, nach Übersee transportieren.»
Sein Rezept: «Einfach Tell, den in Uri aufgewachsenen, typischen Schweizer lancieren, ähnlich wie das Heidi oder wie man es in Österreich mit dem Mozart macht. Wir haben ja ausser Tell und Heidi nicht viele Schweizer, die in einem dramatischen, weltweit anerkannten Schauspiel dargestellt wurden.»
Starke Frauen
Die Gender-Forscherin Elisabeth Joris beschäftigt sich mit der Rolle der Frau in der Tell-Geschichte: «Die Frauen in Schillers Tell sind weder gleichberechtigt noch emanzipiert.»
Die Frauen entsprächen dem Schillerschen Weltbild. «Die Frauenfiguren sind immer an einen Mann gekoppelt», sagte Joris. Sie seien angesehen und mit starken Charakteren versehen. Handeln aber würden sie nur als Ratgeberinnen der Männer, als Ergänzung, wie die Stauffacherin, die ihren Ehemann ermuntert, aktiv zu werden: «Und er wird aktiv und gründet nun quasi die Schweiz.»
Aus dem Tell könne man keine weibliche Figur machen, meinte Elisabeth Joris weiter. «Er symbolisiert den Mann, den archaischen Mann. Ich denke, Tell wird wieder im Hintergrund verschwinden, weil er nicht die Person ist, die unsere heutigen Probleme löst.»
Fazit
Stephan Aschwanden, der Direktor des Musée Suisse in Schwyz, zog am Ende des Tages folgendes Fazit: «Die Mühe mit der Figur Tell, der kritische Bezug war an dieser Tagung deutlich spürbar. Aber das Bedürfnis nach Mythen scheint geblieben zu sein. Erstaunlich, dass diejenigen, die sagen, sie könnten nicht mehr mit Tell leben, am längsten über ihn sprachen.
swissinfo, Etienne Strebel in Schwyz
Wilhelm Tell spielt im eidgenössischen Gründungsmythos eine wichtige Rolle. Ein interdisziplinäres Symposium des Forums der Schweizer Geschichte lud Persönlichkeiten aus Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft und Politik ein, miteinander über die Bedeutung und Funktion nationaler Mythen und Helden zu diskutieren.
Thematisiert wurden dabei Aspekte aus Ästhetik, Ethik, Ideologie, Theorie und Wissenschaft.
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