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«Wir könnten viel verlieren!»

Der Geograf Bruno Messerli in seinem kleinen Büro an der Universität Bern. swissinfo.ch

Der emeritierte Berner Professor Bruno Messerli ist seit Jahren ein renommierter Anwalt der Berge.

Die Schweiz habe im Jahr der Berge eine tragende Rolle gespielt. Dass sie aber die Alpenkonvention nicht unterzeichnet, versteht Messerli nicht.

Im Oktober erhielt der 71-jährige Bruno Messerli am Festival de la Géographie in Frankreich den Prix Vautrin Lud, den «Nobelpreis der Geographie». Die Royal Geographical Society ehrte Messerli mit der Founder’s Medal. Damit gesellt er sich zu Berühmtheiten wie Stanley oder Livingstone.

Dass die Berge 2002 ein eigenes Jahr erhielten und am Erdgipfel 1992 in der Agenda 21 in einem Gebirgskapitel Aufnahme fanden, hat viel mit dem unermüdlichen Kämpfer und Anwalt für die Berge zu tun. Die Berge, die er alle kennt und die er kartiert hat, als noch mit dem Maultier und nicht mit dem Offroader gereist wurde.

Bruno Messerli – wie lange stehen eigentlich die Schweizer Berge schon da?

Die Schweizer Alpen gehören ins Terziär, also stehen sie etwa 60 Millionen Jahre hier. Die Hebungsprozesse dauern allerdings bis heute an.

Dieses Alter gilt aber nicht für alle Berge dieser Erde?

Nein, nein! Es gibt bedeutend ältere. Das Mittelgebirge in Deutschland zum Beispiel. Oder auch die skandinavischen Gebirge.

Weiss man, wie die Schweizer Berge damals vor Millionen von Jahren ausgesehen haben? Gleich wie heute?

Nein, das Relief war ganz anders. Die Wasserscheiden lagen anderswo. Also sahen auch die Flussysteme ganz anders aus und dürften ständig gewechselt haben.

Eine Vegetation war aber da. Auch eine Tierwelt gab es. Selbst auf dem Eigergipfel fand man Fossilien.

Nehmen wir mal den Cro-Magnon-Menschen als Vertreter des heutigen Menschen, 15’000 Jahren vor unserer Zeit. Warum sind denn Menschen in die kargen Berge gezogen? In wärmere Gegenden lebt es sich doch viel angenehmer!

Denken Sie an die Klimawechsel: Die Eiszeiten vor rund 20’000 Jahren, die Abschnitte vor rund 10’000 Jahren. Es war bedeutend wärmer als heute und die Waldgrenze lag höher.

Das Mittelland war völlig von Wald bedeckt. Dort jagen war beschwerlich. Einfacher ging es an Seeufern oder aber oberhalb der Waldgrenze, wo man Übersicht hatte. Wohl deshalb besiedelten – vor allem im Sommer – erste Menschen den Alpenraum. Das gilt auch für die Anden und den Himalaya.

Gerne pflegt der «Unterländer» die Vorstellung von den Bergbewohnern als den knorrigen, freiheitsliebenden Berglern. Aber hat sich nicht gerade in den vergangenen hundert Jahren das Leben in den Bergen grundsätzlich verändert?

Sicher! Kurz nach 1400 hat Grindelwald einen Taleinungsbrief entworfen. Darin wurde für jede Alp festgelegt, wie viele Kuhfüsse auf der Alp stehen dürfen. In heutigen Worten: Schon damals wurde das Ökosystem geschützt. Es begann die Zeit der Hochblüte der Berglandwirtschaft. Ein Bergbauer hatte das selbe Einkommen wie ein Handwerker in der Stadt.

Der Umbruch erfolgte, als die Berglandwirtschaft im Tal kopiert wurde. Nun begannen die wirtschaftlichen Probleme. Neue Einnahmenquellen mussten gesucht werden, sonst wären alle abgewandert. Der Tourismus begann im 19. Jahrhundert, und bald einmal übertraf er die Wertschöpfung der Landwirtschaft.

Diese lange Geschichte war wohl notwendig um zu verstehen, warum es ein Jahr der Berge brauchte. Sie selber, Herr Messerli, sind ja etwas enttäuscht über die Resonanz in der Schweiz. Warum denn ein Jahr der Berge?

Möglicherweise standen mehr die Berge der Entwicklungsländer im Vordergrund und nicht die Alpen. Der Durchbruch gelang, als wir aufzeigen konnten, wie global unschätzbar die Ressourcen der Berge sind: Wasser, die Biodiversität, die kulturelle Diversität und der Tourismus, der auch die Entwicklungsländer unvorbereitet traf und trifft.

Das Jahr der Berge sollte die Leute, die Verantwortlichen, sensibilisieren, dass die Berge eine globale Bedeutung haben und dass es eine Gebirgspolitik braucht.

Rein national können die Probleme der Zukunft nicht mehr gelöst werden. Die Biodiversität der Berge müssen wir den kommenden Generation erhalten.

Was genau meinen Sie damit?

Die Berge schützen kann niemand mehr alleine. Wer schützen will, muss auch das Nutzen besser organisieren. Es braucht Leute, die in diesen Gebirgsräumen leben können. Das heisst, es muss auch wirtschaftlich interessant sein.

Damit ist die grosse Herausforderung gegeben: Einerseits zu den Ressourcen Sorge zu tragen, aber auch Menschen dort zu haben, die das verstehen und Erfahrung haben. Das war der Sinn des Jahres der Berge. Und ich denke, der Aufruf wurde gehört. Das Jahr der Berge war somit ein Erfolg.

Eine gewaltige Aufgabe. Hat das die Schweiz geschafft, die ja nicht einmal die Alpenkonvention ratifiziert hat?

Das ist für mich ein heisses Thema. Die Schweiz hat im Jahr der Berge eine grossartige Rolle gespielt. Ohne die Schweiz hätte es auch das Bergkapitel in der Agenda 21 nicht gegeben. An der Schlusskonferenz in Kirgisistan, jetzt im Herbst, spielte die Schweiz eine zentrale Rolle.

Schade eigentlich, dass bei der UNO-Abstimmung dem Schweizer Volk nicht gezeigt wurde, dass ein Kleinstaat eine so grosse Rolle spielen kann in der Weltgemeinschaft.

Und die Alpenkonvention?

Wenn mich Fachleute im Himalaya oder in den Anden fragen, ob ich Unterlagen zur Alpenkonvention schicken kann, man solle ja jetzt länderübergreifend den Problemen zu Leibe rücken, dann wird es mir furchtbar peinlich.

Dann muss ich denen sagen, ja ich kann die Unterlagen schon schicken, aber ausgerechnet mein Land versteht das Problem nicht. Das schockiert mich, ganz offen gesagt.

Wir sollten im Alpenraum das Vorbild für die Welt abgeben. Und ausgerechnet die Schweiz blockiert. Warum verstehen wir denn nicht, dass wir eine höhere Aufgabe haben, als ein kleines Eigeninteresse zu vertreten, das nicht einmal berechtigt ist.

Damit sind Sie plötzlich als Geograf aus den Bergen auf der politischen Bühne gelandet.

Wenn man, wie ich es tat und tue, durch die Gebirgslandschaften dieser Erde marschiert, dann beginnt man die Probleme zu sehen.

Ich spüre einfach: wenn das unkontrolliert weiter geht, dann werden wir viel verlieren. Dann kommt der Augenblick, wo man den Mut aufbringt, mit dieser Problematik vor der Politik anzutreten.

Und wissen Sie, es ist eigentlich faszinierend zu versuchen, die wissenschaftlichen Grundlagen in die Politik zu übertragen.

swissinfo, Urs Maurer

Weltweit machen die Berggebiete 26% der Landfläche aus.
Rund 12% der Erdbevölkerung leben in Berggebieten
Die Schweiz liefert dem Ausland über ihre Flüsse 1700 Kubikmeter Wasser pro Sekunde.
Das sind 1,7 Mio. Flaschen Mineralwasser pro Sekunde
In Seen, Gletschern und im Grundwasser lagern weitere 360 Mrd. Kubikmeter Wasser.

Die zuständigen Stellen des Bundes setzten sich folgende Ziele für das Jahr der Berge:

Die Bevölkerung im Unterland für eine nachhaltige Berggebiets-Entwicklung sensibilisieren.

Die Solidarität zwischen ländlicher und städtischer Bevölkerung stärken.

Konkrete mittel- und längerfristige Projekte, die zu einer exemplarischen Entwicklung im Berggebiet führen.

Die Handlungs-Bereitschaft der privaten und öffentlichen Akteure zugunsten einer nachhaltigen Entwicklung des Berggebietes im In- und Ausland erhöhen.

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