Wohnen und Denken im Gotthard
Der Künstler Jean Odermatt hat sich in der alten Festung San Carlo auf der Gotthard-Passhöhe einen Traum verwirklicht. Entstanden ist eine "postmoderne Klosterherberge".
«La Claustra» ist ein unterirdischer Ort der Reflexion für Leute, die jenseits von Raum und Zeit entspannen und denken wollen.
«Eine Oase, losgelöst vom Strom der Tagesaktualitäten,» sagt der Initiant zum neuen Kommunikationszentrum. «Am Anfang will hier niemand bleiben, aber nach drei Tagen will niemand mehr gehen». So beschreibt der Schweizer Künstler und Soziologe Jean Odermatt den Gefühlszustand seiner Gäste in La Claustra.
Odermatt ist die treibende Kraft dieses absolut ungewöhnlichen Ortes – ein Begegnungs- und Kommunikationszentrum mitsamt Hotelbetrieb – mitten im Gotthard-Fels, auf 2050 Metern Höhe über dem Meeresspiegel.
Tatsächlich präsentiert sich La Claustra anfänglich alles andere als einladend. Zwei Kurven nördlich des Gotthard-Hospizes würde man am roten Eingangstor glatt vorbei fahren, so unscheinbar verborgen liegt der Zugang.
Ein 200 Meter langer Tunnel führt ins Innere der früheren Réduit-Festung, in deren Kavernen bis 1995 jeweils gut 200 Soldaten die Stellung hielten. Mit jedem Schritt wird es feuchter und kälter.
Schlicht und elegant
Doch dann tritt man plötzlich durch Glastüren. In die Höhlen sind jetzt moderne Boxen mitsamt Klimaanlage eingebaut. Mobiliar in Restaurant, Bar und Konferenzraum präsentieren sich schlicht, aber elegant. Indirekte Beleuchtung und Kerzen sorgen für Atmosphäre.
Nichts ist dem Zufall überlassen, die kleinsten Details sind gepflegt. Glasscheiben kreieren die Illusion von Fenstern. In den 17 Zimmern, die eher Zellen gleichen, lassen sich die Möbel auf Rollen individuell verschieben.
Wer in den Spiegel schaut, sieht ein Alpenpanorama, das jedoch erlischt, sobald das elektrische Licht eingeschaltet wird. Selbst ein türkisches Bad fehlt nicht im Bergesinneren. Danach darf man sich in einer Höhle unter einer der Gotthard-Wasserquellen absprenkeln.
Zusammenspiel der Elemente
Überhaupt sollen hier im Zusammenspiel der vier natürlichen Elemente Fels, Wasser, Licht und Feuer die Sinne geschärft werden. Wobei das Wasser eine zentrale Rolle spielt. Der Gotthard ist eines der wenigen weltweiten Quellgebiete, in dem Flüsse in die vier Himmelsrichtungen entspringen.
«Wir befinden uns direkt unter der Wasserscheide», schwärmt Odermatt, der fraglos eine Obsession für den Gotthard hat. «Der Gotthard ist der Piccadilly Circus, der Times Square, der Place de la Concorde, der Punkt, von dem alle Gedankenstrassen ausgehen, und zu dem sie letzten Endes zurückkehren», schrieb er bereits vor einigen Jahren.
In diesem Sinne verfolgt die Anlage einen einzigen Zweck: Die Besinnung aufs Wesentliche, aufs Notwendige. Odermatt will Arbeit und Erfahrungen an einem kulturell wie mythisch besonderen Ort ermöglichen, ausserhalb der gewohnten Koordinaten von Raum und Zeit. Menschen aus Wissenschaft, Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft sollen hier in einen Dialog treten.
Aus Geschütz wird Teleskop
Daher auch der Name eines «postmodernen Klosters». Klöster, so Odermatt, hatten immer einen Rückzugsgedanken, waren aber zugleich Orte der Kreativität. Auch La Claustra versteht sich als eine Oase, «losgelöst vom Strom der Tagesaktualitäten.»
Nachmodern, aber keineswegs unmodern. Zwar gibt es keinen Handyempfang und auch Fernseher sucht man vergebens, aber für drahtlosen Internet-Anschluss ist gesorgt. Und auch die Küche ist nicht gerade auf Askese angelegt. Allein 50 Rohkäse-Sorten aus diversen Ländern gibt es. Die Hauptmahlzeiten werden mit frischen, vorwiegend biologischen Produkten zubereitet.
Zumindest für einen kleinen Ausblick aus dem Stollen in die weite Welt wird zudem in Kürze gesorgt. Im Geschützturm der alten Fortezza wird ein Teleskop installiert, mit dem sich die Milchstrasse, ungestört vom Streulicht der Zivilisation, beobachten lässt.
Auch damit will Odermatt klar machen, dass es ihm um mehr geht, als um einen funktionierenden Hotelbetrieb. Mit La Claustra wollte er eine Skulptur schaffen: «Ich bin nicht der Bodenmann vom Gotthard.»
Gerhard Lob, Sankt Gotthard
Kosten zum Umbau des Artellerieforts San Carlo: 4 Mio Franken
Grösse La Claustra: 4000 Quadratmeter
Einrichtungen: Vier-Stern-Hotel, 17 Zimmer (25 Betten), Speisesaal, Bistro, Bibliothek, Wellness-Bereich
Öffnungzeiten: Mai bis Oktober
Kosten pro Nacht bei Vollpension (im Seminarbetrieb): 325 Franken
Der Umbau des Artillerieforts San Carlo in das Kommunikations- und Forschungszentrum La Claustra mitsamt Hotel dauerte vier Jahre. Seit diesem Sommer ist La Claustra im Vollbetrieb.
Initiant ist der Künstler Jean Odermatt, der sich mit La Claustra einen Traum erfüllt hat. Er wollte im Gotthard einen Ort «jenseits von Raum und Zeit schaffen», der im Sinne einer postmodernen Klosteranlage zur Reflexion einlädt.
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