Zukunft des Gesundheitswesens vor dem Stimmvolk
Die wichtigsten Elemente und Grundsätze der Krankenversicherung sollen in die Bundesverfassung aufgenommen werden. Dies fordert ein Verfassungsartikel, über den am 1. Juni an der Urne entschieden wird.
In der Schweiz ist die Krankenversicherung obligatorisch. Jede Person, die im Land wohnt, muss seit 1996 mindestens eine Grundversicherung bei einer der fast 100 Krankenkassen abgeschlossen haben.
Diese Grundversicherung garantiert den Zugang zu medizinischen Behandlungen und übernimmt einen Grossteil der anfallenden Kosten.
Doch seit Einführung des Krankenversicherungs-Gesetzes sind die Prämien für diese Versicherung jedes Jahr weiter angestiegen. Ein Ende der Aufwärtsspirale ist nicht in Sicht.
Die Schweizerische Volkspartei (SVP) hat daher 2004 mit rund 101’000 gültigen Unterschriften die Volksinitiative «Für tiefere Krankenkassenprämien in der Grundversicherung» eingereicht. Diese wollte die Prämien unter anderem durch eine Verminderung der möglichen Leistungen senken.
Gegenvorschlag
Doch die Initiative fand bei der Landesregierung (Bundesrat) und einer Mehrheit des Parlaments kein Gehör.
Stattdessen arbeitete das Parlament in kurzer Zeit einen Gegenentwurf aus, der einige Anliegen der Volksinitiative aufnimmt und die wesentlichen Grundsätze der sozialen Krankenversicherung in der Verfassung verankert.
Das Initiativkomitee zog die Initiative daraufhin zurück. Es wird also nur über den Gegenentwurf abgestimmt, den Verfassungsartikel «Für Qualität und Wirtschaftlichkeit in der Krankenversicherung».
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Krankenversicherung
Wettbewerb
Mit dem neuen Verfassungsartikel soll die knappe Norm über die Krankenversicherung in der Verfassung ausgebaut werden. So wird festgelegt, dass die Krankenversicherung eine allgemein zugängliche Gesundheitsversorgung zu einem angemessenen Preis garantieren soll.
Vorgesehen ist, dass die wesentlichen, schon heute geltenden Grundsätze für die Krankenversicherung und die Krankenpflegeversicherung in der Bundesverfassung festgeschrieben werden, etwa der Wettbewerb unter den Krankenkassen und den Leistungserbringern wie Spitäler und Ärzte.
Für Qualität und Wirtschaftlichkeit sollen sich Bund und Kantone gemeinsam einsetzen und ihre Massnahmen koordinieren. An den Zuständigkeiten würde sich nichts ändern.
Neuerung mit Sprengkraft
Eine einzige Neuerung sieht der Verfassungsartikel vor, nämlich den Systemwechsel vom Dualismus zum so genannten Monismus. Statt wie derzeit zwei Empfänger von Geldern soll es künftig nur noch einen geben.
Neu sollen die Beiträge der öffentlichen Hand nicht mehr teilweise an die Kantone und Spitäler gehen, sondern direkt an die Krankenkassen, welche die Leistungen vergüten.
«Das heutige System, die unterschiedliche Finanzierung, bringt Fehlanreize», sagt der christlichdemokratische Ständerat Philipp Stähelin im swissinfo-Streitgespräch. Er unterstützt den neuen Artikel in der Verfassung, denn «der heutige Artikel hat keinerlei Lenkungskraft».
Daher sei es Zeit für den Wechsel zu einem neuen System: «Ein System, das nicht auf staatlicher Planung basiert, sondern auf Wettbewerb – selbstverständlich in einem Rahmen.»
Die sozialdemokratische Nationalrätin Jacqueline Fehr kann diesem Wechsel nichts abgewinnen. Sie befürchtet ein «Kassendiktat»: «Dieser Artikel würde die Macht den Krankenversicherungen übertragen.»
Heute sorge die Politik auf Grund ihres Verfassungsauftrags dafür, dass alle Zugang zu einem guten Gesundheitssystem hätten. «Wir wissen, dass profitorientierte Versicherungskonzerne diesen Zugang nie allen Menschen gleich gewähren würden, dass sie auf Profite schielen würden», warnt sie.
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Bundesverfassung
Streit um Arztwahl
Die befürchtete Machtfülle der Krankenkassen führe zu einem Abbau in der Gesundheitsversorgung, betonen die Gegner. Auch sei der Artikel ein erster Schritt in Richtung Vertragsfreiheit, was zur Abschaffung der freien Arztwahl führen könnte.
Der grösste Ärzteverband der Schweiz FMH stellt sich klar dagegen. «Bestimmen die Kassen künftig vor, welche Ärzte genehm sind, bedeutet das einen massiven Rückschritt in qualitativer Hinsicht», schreiben sie.
«Es ist klar, dass unter einem System, das unter dem Diktat der Versicherungen steht, die Schwächeren im System, also die Kranken, leiden», sagt auch Fehr.
«Der Artikel sieht gerade das Gegenteil vor», kontert Stähelin. «Nämlich die klare Wahl der Versicherungsnehmer.» Und schliesslich stehe im Artikel ausdrücklich drin, «dass die versicherungspflichtigen Personen frei wählen können, auch unter den Leistungserbringern».
swissinfo, Christian Raaflaub
Ein Ja zum Verfassungsartikel «Für Qualität und Wirtschaftlichkeit in der Krankenversicherung» empfehlen der Bundesrat (Landesregierung) und eine Mehrheit des Parlaments sowie die Freisinnig-Demokratische Partei (FDP) und die Schweizerische Volkspartei (SVP).
Dagegen sind die Christlichdemokratische Volkspartei (CVP), die Sozialdemokratische Partei (SP), die Liberale Partei (LPS) sowie diverse grosse Fachverbände aus dem Gesundheitswesen. Auch die Konferenz der kantonalen Finanzdirektoren (FDK) lehnt den Verfassungsartikel klar ab.
Weil es sich bei der Vorlage um eine Änderung der Verfassung handelt, sind am 1. Juni 2008 das Volksmehr und das Ständemehr, also eine Mehrheit der Kantone, ausschlaggebend.
Der Gesundheits-Sektor hat auch in der Schweiz eine wirtschaftliche Bedeutung und gilt als Wachstumsmotor.
2005 wurden in der Schweiz in diesem Bereich 52,9 Milliarden Franken ausgegeben.
Die Quote der Gesundheitsausgaben auf das Bruttoinland-Produkt (BIP) stieg von 10,4 auf 11,6%.
Im internationalen Vergleich steht die Schweiz damit hinter den USA mit 15,3% an zweiter Stelle, gefolgt von Deutschland (10,9%) und Frankreich (10,5%).
2005 waren rund 428’000 Personen im schweizerischen Gesundheits-Sektor tätig. Ein Viertel von Ihnen stammen aus dem Ausland.
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