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Bei der Todesstrafe kennt die Schweiz keine Neutralität

Ein Jugendlicher mit verbundenen Augen auf einem Stuhl
Im Iran haben in den letzten Jahren die meisten Exekutionen (nach China) stattgefunden. Im Land werden auch Minderjährige hingerichtet. Getty Images

Es ist ein erklärtes Ziel der Schweiz, dass die Todesstrafe weltweit abgeschafft wird. Deren Verteidiger pochen dagegen auf nationale Souveränität – und wollen sich damit von angeblichen westlichen Werten abgrenzen.

Bis 2025 wollte die Schweiz eine Welt ohne Todesstrafe erreichen. Dieses ehrgeizige Ziel steckte sich das Land vor 11 Jahren.  «Solange die Todesstrafe existiert, werden wir weiterhin dagegen kämpfen», sagte Didier Burkhalter, damals Aussenminister, bei der Zielsetzung 2013.

Das Ziel wurde nicht erreicht, aber der Trend geht bereits lange in Richtung Abschaffung: Heute ist es noch ein harter Kern von rund zwanzig Staaten, die regelmässig Menschen hinrichten.

Die allermeisten Länder haben sie abgeschafft oder ausgesetzt. Diese Entwicklung ist ein weltgeschichtliches Novum.

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Doch vor einer Welt ohne Hinrichtungen sind wir weit entfernt. Staaten wie China, Iran, Saudi-Arabien oder die USA exekutieren weiterhin viele Menschen.

Amnesty International berichtete von 1153 bekannten Exekutionen im Jahr 2023 – ein Zuwachs von 31% vom Jahr zuvor und die höchste Zahl in einer Dekade. Die Dunkelziffer ist jedoch um einiges höher.

Diejenigen Staaten, die an der Todesstrafe festhalten, argumentieren in erster Linie mit ihrer nationalen Souveränität: Völkerrechtlich ist die Kapitalstrafe nicht per se verboten. Es sei also ihr Recht, sie auszuüben.

Deren Abschaffung zeichnen viele dieser Staaten als ein westliches Anliegen, das unvereinbar sei mit ihren Wertvorstellungen und Rechtssystemen.

Letztlich wolle der Westen damit seine eigenen Werte durchsetzen und seine Hegemonie untermauern – ein Argument, das in der internationalen Politik in unterschiedlichen Variationen anzutreffen ist.

Die Abschaffung der Todesstrafe: kein rein westliches Anliegen

«Jeder Mensch hat das Recht auf Leben. Die Todesstrafe ist verboten.» So steht es in der Schweizer BundesverfassungExterner Link seit 1999 – und davon lässt sich auch die Aussenpolitik des Landes leiten.

Der Grundsatz, dass die Todesstrafe kategorisch und unter allen Umständen verboten ist, ist ein aussenpolitischer Schwerpunkt seit 1982.

Die letzten Hinrichtungen in der Schweiz fanden 1944 statt. Paradoxerweise war im Schweizer Militärstrafrecht die Todesstrafe aber bis 1992 eine Option. Das zeigt: Die Lage rund um die Kapitalstrafe ist verworren.

Ohnehin waren es eher Akteure der Zivilgesellschaft als jene der Politik, die sich seit Ende des Zweiten Weltkriegs gegen die Todesstrafe engagierten.

Nach den Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs wurde die UNO etabliert und mit ihr die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, wo das Recht auf LebenExterner Link, das Grundsatz und Voraussetzung für ein Verbot der Todesstrafe ist, definiert wurde.

Es waren vor allem transnationale Netzwerke aus der Zivilgesellschaft, die der Bewegung des Abolitionismus Vorschub gaben – wie beispielsweise Amnesty International, das international zu einer der wichtigsten Stimmen wurde.

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Chiara Sangiorgio koordiniert von London die globale Kampagne gegen die Todesstrafe von Amnesty InternationalExterner Link aus. Sie weist daraufhin, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg gerade einmal ein Handvoll Staaten ohne Todesstrafe gab.

Fast alles waren lateinamerikanische Länder, wo die Todesstrafe hauptsächlich mit kolonialer Repression konnotiert war. Ihre Abschaffung war Teil der nationalen Emanzipation.

Der erste moderne Staat, der die Todesstrafe abschaffte, war Venezuela im Jahr 1864. «Es ist wichtig daran zu erinnern, dass die Bewegung gegen die Todesstrafe eben nicht ein rein westliches Anliegen ist», so Sangiorgio.

Die Demokratisierung von mehr und mehr Ländern im Laufe des 20. Jahrhunderts gilt als wichtiger Faktor bei der weltweiten Eindämmung der Kapitalstrafe – die USA bleiben eine gewichtige Ausnahme dabei, auch wenn in diesem Land immer weniger Menschen exekutiert werden.

Die Kapitalstrafe gilt als Instrument der Repression, der sozialen Kontrolle und der Unterdrückung politischer Opposition.

Zudem: Es gibt «keine wissenschaftlichen Studien, die belegen, dass sie positive Auswirkungen auf die Verbrechensprävention und die Sicherheit hat und wirksamer ist als andere schwere Strafen», schreibt das Schweizer Aussendepartement in seinem «Aktionsplan 2024-2027» zur weltweiten Abschaffung der TodesstrafeExterner Link.

Männer werden von Polizisten abgeführt
In China werden jährlich Tausende von Menschen exekutiert – genaue Zahlen sind nicht bekannt, die Kommunistische Partei kommuniziert keine Zahlen. 2004 China Photos

Nationale Souveränität versus Menschenrechte

Staaten, die die Todesstrafe weiterhin haben, argumentieren oft mit Härte gegen Verbrecher. Gegenüber der eigenen Bevölkerung wolle man signalisieren, dass der Staat «tough on crime» sei und Schuldige bestrafen wolle, sagt Aurélie Plaçais, Direktorin von World Coalition Against the Death PenaltyExterner Link (WCADP).

«Letztlich ist es eine einfache Antwort auf komplexe Probleme und Kriminalität.» Zur Einordnung: Im Jahr 2022 entfielen 37% der weltweit ausgestreckten Hinrichtungen auf Drogendelikte.

Die WCADP ist eine internationale DachorganisationExterner Link in Frankreich, die sich für die Abschaffung der Todesstrafe weltweit einsetzt und 185 Organisationen vereint. Viele ihrer Mitglieder werden wegen ihres Einsatzes gegen die Todesstrafe in ihren Ländern verfolgt.

Die Kommunikationsstrategie gegen aussen funktioniere anders, sagt Plaçais: International betonten die Staaten nicht die Kriminalitätsbekämpfung, sondern beharrten auf ihrer Souveränität und darauf, dass das internationale Recht die Todesstrafe nicht verbiete. Jeder Staat habe also das Recht, sie einzusetzen, denn es liege in seiner nationalen Souveränität.

In Verhandlungen im UNO-Rahmen fällt auf, dass die Staaten sich in ihren Voten oft darauf beziehen. Sie bemängeln, dass die Diversität von Rechts- und Politsystemen nicht respektiert werde und so die Gleichheit der Staaten gefährdet werde.

Letztlich ginge es um die Durchsetzung einer bestimmten Weltordnung und bestimmter Werte – eine klare Kritik gegen den Westen, der in ihren Augen das multilaterale System dominiere. Die Universalität der Menschenrechte wird von ihnen explizit nicht anerkannt.

Die Staaten mit den meisten durchgeführten Exekutionen sind sehr unterschiedlich. Da ist zunächst China, ein kommunistischer Ein-Parteien-Staat, der für eine grosse Anzahl von Delikten die Todesstrafe verhängt.

Genaues ist nicht bekannt: China handhabt das Thema sehr verschwiegen, offiziell wird wenig kommuniziert, auch die Anzahl der Vollstreckungen ist unbekannt. «Wir gehen von Tausenden von Exekutionen jährlich aus», so Aurélie Plaçais.

Danach kommt der Iran, ein theokratisch-autoritäres System, das seit der islamischen Revolution die Todesstrafe als Repressionsinstrument zeitweise massiv eingesetzt hat und einsetzt – so auch nach den Aufständen nach der Ermordung von Jina Mahsa Amini.

Wie in der absoluten Monarchie Saudi-Arabien sind Drogendelikte und religiöse Delikte wichtig bei der Verhängung der Todesstrafe.

Die USA führt als eine der wenigen Demokratien weltweit noch Exekutionen durch, wobei die Zahlen seit einiger Zeit rückläufig sind und immer mehr Bundesstaaten diese Strafe verbieten oder aussetzen.

«Gemeinsam ist allen Staaten, dass sie ein hohes Mass staatlicher Gewalt kennen», so Plaçais. Repression und diskriminierende Politik im Inland, sowie militärische Konflikte im Ausland seien Merkmale dieser Staaten.

Zwischen PR und echtem Abolitionismus

Dann gibt es noch Staaten wie Saudi-Arabien. Saudi-Arabien gibt sich gegen aussen ein Image der Modernisierung, während die Zahl der Hinrichtungen hochgeschnellt ist.

«Die Lage ist so schlimm wie noch nie», sagt dazu Taha Alhajj, Legal Director der European Saudi Organisation for Human RightsExterner Link (ESOHR).

Seit Mohammed bin Salman der starke Mann im Königreich geworden ist, hat sich viel im Land verändert. Soziale Normen wurden aufgeweicht, die Religion zurückgedrängt, das Land öffnet sich touristisch.

Für Alhajj ist das reine PR: «Sport, Musik, Influencer – Saudi-Arabien investiert Milliarden, um sich ein sauberes Image zu geben. Gleichzeitig sind noch nie so viele Menschen exekutiert worden.»

demonstrierende Menschen
Proteste vor dem saudischen Konsulat in New York gegen die Exekution von muslimischen Geistlichen, im Juni 2019. 2019 Anadolu Agency

Dabei missachte das Königreich grundlegende Normen, so dass etwa Menschen ohne Rechtsbeistand verurteilt oder Minderjährige exekutiert würden.

Zudem sei der Strafenkatalog so weit wie noch nie, sagt Alhajj – mittlerweile würden Menschen auch wegen politischer oder religiöser Vergehen hingerichtet.

«Auf der internationalen Bühne spricht sich Saudi-Arabien für die Einhaltung von Menschenrechten aus. Das sind pure Manipulation und Lügen», resümiert er.

Was das für die Zivilgesellschaft selbst bedeutet, kennt die ESOHR aus eigener Erfahrung: Der Gründer wurde verfolgt und inhaftiert, alle Mitglieder mussten sich wegen der Verfolgung ins Ausland absetzen.

«Die Strafen, die drohen, sind drakonisch, im Land gibt es keine Menschenrechtsaktivisten mehr, die sich gegen die Todesstrafe einsetzen», sagt Alhajj.

Es wird wohl mehr Exekutionen geben

Wie geht es nun weiter? Für Chiara Sangiorgio und Aurélie Plaçais ist der Trend klar, die Anzahl der Länder mit Todesstrafe ist abnehmend. «Mehrere Staaten behandeln momentan Gesetzesentwürfe zur Abschaffung der Todesstrafe», sagt Plaçais.

Allerdings habe in den letzten Jahren die Zahl der Exekutionen zugenommen, wie eben in Saudi-Arabien. Beide erwarten, dass das in Zukunft so weitergehen wird: Weniger Länder mit Todesstrafe, aber mehr Exekutionen.

Und vermutlich weiterhin mit viel Verschleierung: Die chinesische Regierung setzte sich 2002 auf den Standpunkt, die «endgültige weltweite Abschaffung der Todesstrafe» wird «die unvermeidliche Folge der historischen Entwicklung» sein.

China bleibt weiterhin das Land mit den meisten ausgeführten Todesstrafen – und zwar mit Abstand.

Editiert von Benjamin von Wyl

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