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Mathematik mit oder ohne Barrigue?

Einfach Spass oder Aufruf zum Mord? Dessin de Barrique

Genf und Waadt verbannten die Zeichnungen von Barrigue aus ihren neuen Mathematikbüchern. Die übrigen Westschweizer Kantone liessen die Bücher unverändert austeilen.

Wie reagiert man einige Wochen nach Beginn des neuen Schuljahres in den Schulen? Ein Beispiel aus Bern.

Blenden wir kurz zurück: Thierry Barrigue, vor allem bekannt von seinen Zeichnungen in der Tageszeitung «Le Matin», illustriert seit gut zwanzig Jahren Mathematikbücher namentlich für den Kanton Waadt (in der Schweiz ist das Schulwesen Sache der Kantone).

Dieses Jahr nun kam es zu einem historischen Ereignis: In der ganzen Westschweiz wird für die 7. bis 9. Klasse ein einheitliches Schulbuch benutzt. Auf diese Koordination hatte man lange gewartet.

Die Affäre

Was sich so gut anliess, wird allerdings durch einen verblüffenden Skandal beeinträchtigt: Kurz vor den Sommerferien empörten sich die Genfer Lehrkräfte wegen einiger Illustrationen Barrigues, kurz darauf gefolgt vom Waadtland.

Erstaunlich, denn alle kennen den Mann und seine Lust am Provozieren. Falls die Wahl des Zeichners nicht top secret war, was wenig wahrscheinlich ist, kam der Aufschrei im Juni doch recht überraschend.

Daraufhin nimmt die Affäre ein solches Ausmass an, dass die Staatsräte in den Kantonen Genf und Waadt auf den Protest der Lehrerschaft eingehen und die gesamte Auflage vernichten lassen.

Die Bücher werden also neu gedruckt, diesmal ohne die beanstandeten Zeichnungen… Kosten der ganzen Angelegenheit: rund 420’000 Franken.

In den anderen Kantonen ist die Reaktion gemässigter: Im Wallis, in Freiburg, in Neuenburg und im Jura sowie im französischsprachigen Teil des Kantons Bern ist man nicht bereit, wegen einiger umstrittener Karikaturen Hunderttausende von Franken auszugeben.

Nur eine Zeichnung

Ein Morgen in der französischen Schule von Bern, Besuch bei einer 7. Klasse der Abteilung A. Wir sind in der Mathematikstunde mit Lehrer und Schuldirektor Michel Clémençon.

Das Besondere an dieser Schule ist, dass sie in einem deutschsprachigen Kantonsteil französischsprachigen Unterricht erteilt. Sie wird vor allem von Kindern von Bundesbeamten und ausländischen Diplomaten besucht.

Haben die Kinder etwas von der Affäre Barrigue gehört? Nur die wenigsten. Sie haben ihr Schulbuch erstmals gut zehn Tage vor diesem Treffen geöffnet.

Aber Barrigues Stil kennen sie, denn schon in der 6. Klasse hatten sie ein Mathematikbuch mit seinen Zeichnungen. «Da war eine mit einem abgeschnittenen Finger, die war wirklich sehr lustig», erinnert sich ein Schüler, offensichtlich nicht davon traumatisiert.

Von der «Gewalt»…

Und dieses Bild mit der Jahreszahl 2003, das einen Lehrer zeigt, der böse guckt, weil ein Schüler folgendes Poster aufgehängt hat: «Wanted, Mathematikprofessor, 10’000$, tot oder lebendig»: Was halten sie davon? Gelächter. Aber als sie hören, dass einige Lehrkräfte darin einen Aufruf zur Gewalt sahen, werden sie wieder ernst.

«Das ist daneben. Von einer solchen Zeichnung wird man nicht beeinflusst oder gar gewalttätig. Es ist nur eine Zeichnung, die bringt uns doch nicht dazu, einen Lehrer zu töten… Die Zeichnungen sind zwar sehr augenfällig, aber es ist und bleibt einfach ein Mathebuch», stellt Nicolas fest.

«Eine solche Zeichnung ist nichts anderes als eben eine Zeichnung», bekräftigt auch sein Mitschüler Meher. «Die kann niemanden beeinflussen. Wer zu oft zu brutale Programme am Fernsehen schaut, so jemand kann vielleicht seinen Lehrer töten; aber wegen solch lustiger Bilder bringt man wirklich nicht seinen Lehrer um!»

…zum Rassismus

Zum Thema Quadratwurzel hat Barrigue zwei weisse Kinder gezeichnet, die zu einem schwarzen sagen: «Erzähl mal, wo sind deine Wurzeln?» «Das ist Rassismus!» empörten sich einige Lehrer in der Genferseeregion.

Auch Meher, der aus Tunesien stammt, ist von diesem Bild betroffen: «Ich finde es etwas rassistisch. So etwas fragt man nicht.» Nicolas ist nicht einverstanden. «Nein, das ist eine Frage, die man irgend jemandem stellen kann.» Und auch Nathan meint: «Die interessieren sich für dich. Das ist doch eher sympathisch.»

Das zeigt, dass eine Karikatur über die Darstellung hinaus zu einer Diskussion führen kann. Und soll die Schule nicht auch den Gedankenaustausch fördern und damit den Kindern helfen, sich in der Gesellschaft zurecht zu finden? Auch in einer Mathematikstunde?

Die Lehrer, hässlich und bärtig?

Zu viele Männer. Zu viele Bärte. Zu viel Hässlichkeit. Einigen Lehrern gefiel die stereotype Darstellung Barrigues nicht. «Früher zeichnete man die Lehrerinnen in den Zeichentrickfilmen als Nonnen!», meint ein Schüler. «Das ist nichts anderes als eine Karikatur», meint ein Mädchen.

Kurz, sogar in der Siebten, also bei den jüngsten Schülerinnen und Schülern, die dieses Buch verwenden, versteht man den Unterschied zwischen Porträt und Karikatur, zwischen dem Spass auf dem Pausenplatz und einem Aufruf zum Mord.

Direktor Clémençon erstaunt es trotzdem nicht, dass man in einigen städtischen Regionen betroffener reagiert als in anderen. Probleme im Unterricht, immer mehr Erziehungsaufgaben, Nachdenken über Rolle und Bedingungen des Lehrerberufs…

Trotzdem löst die Kontroverse Schmunzeln aus: «Als Lehrperson nimmt man sich manchmal zu wichtig. Man hat Mühe, sich in Frage zu stellen oder gerechtfertigte Kritik anzunehmen.»

Sind sie vielleicht etwas egozentrisch, die Lehrerinnen und Lehrer? Ein Schüler sieht es so: «In diesem Buch macht man sich über Schüler und Lehrer lustig. Wir sind genauso Karikaturen wie sie! Ich verstehe nicht, warum sie so viel Lärm machen, während wir nichts sagen.»

swissinfo, Bernard Léchot
(Übertragung aus dem Französischen: Charlotte Egger)

Seit diesem August hat die ganze Romandie einheitliche Mathematik-Bücher für die 7. bis 9. Klasse.

Diese Bücher haben im Sommer eine regelrechte «Affäre» provoziert. Weil ihnen einige Karikaturen des Zeichners Thierry Barrigue zu weit gingen, haben die Regierungen der Kantone Genf und Waadt eine Neuauflage drucken lassen – ohne Barrigue-Bilder. Die Kosten: 420’000 Franken.

Die anderen Kantone der Westschweiz haben die Bücher mit den Karikaturen an die Schüler verteilt.

Eine interne Untersuchung soll nun die Verantwortlichkeiten dieser Geschichte aufzeigen. Besonders interessiert, wer die Kosten für den Neudruck übernehmen soll und die Frage, was mit der Ausgabe des Jahres 2004 geschehen soll.

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