60 Jahre «Al Nakba» für die Palästinenser
Während Israel die Gründung des Staates vor 60 Jahren feiert, kommen bei den palästinensischen Nachbarn eher düstere Erinnerungen hoch. Für sie war das damals "Al Nakba" – die Katastrophe. Eine junge palästinensische Christin erzählt.
«Ich erinnere mich, dass immer zu dieser Jahreszeit Feuerwerke stattfanden, als ich ein Kind war», sagt Shireen Bakleh (Name von der Redaktion geändert). «Wir ignorierten sie, und ich wusste nicht, was gefeiert wurde. Meine Eltern wollten mir nicht sagen, dass dieses Feuerwerk unseren Untergang feierte. Sie wollten, dass ich eine ganz normale Kindheit hatte.»
Schätzungsweise 700’000 bis 900’000 Palästinenser flohen während der Nakba zwischen Juni 1946 und dem offiziellen Ende des arabisch-israelischen Krieges im Januar 1949 aus ihren Häusern. Heute sind 4,5 Millionen Flüchtlinge registriert, Nachkommen der ursprünglichen Flüchtlinge von damals, die im Nahen Osten leben.
Baklehs Familie gehörte zu den glücklicheren. Die Familie ihrer Mutter blieb in Haifa, als die Stadt Teil Israels wurde. Ihr Grossvater führte bis zu seinem Tod eine Schneiderei.
Sie wurden offiziell zu israelischen Arabern, eine Bezeichnung, die Bakleh nicht mag. Sie sind israelische Staatsbürger und haben einen israelischen Pass, bleiben aber Palästinenser und, wie sie sagt, Bürger zweiter Klasse.
Die Familie ihres Vater musste 1946 ihr Haus in Israel aufgeben. Heute steht ein Mehrfamilienhaus dort, wo früher ihr Haus war. Der Baum, den ihr Onkel gepflanzt hatte, ist noch dort.
Baklehs Vater besitzt einen «laisser-passer», ein Reisedokument, das alle paar Jahre erneuert werden muss. Dies heisst, dass er zwar Einwohner Jerusalems ist, nicht jedoch Staatsbürger.
Bakleh hingegen hat als israelische Araberin einen Pass und kann sich frei bewegen – im Gegensatz zu den 1,3 Millionen palästinensischen Flüchtlingen dritter Generation in den Lagern im Westjordanland, in Gaza, Jordanien, Syrien oder Libanon.
«Leugnen der Geschichte»
Laut Bakleh liegt die Tragödie der Palästinenser darin, dass Israel die Geschichte nicht wahrhaben will und die Bevölkerung die palästinensische Geschichte und Kultur zu wenig kennt und versteht.
Die Israelis lernten, dass dieses Land ihnen gehöre und bis zu ihrer Ankunft unbewohnt gewesen sei. «Ein Land ohne Menschen für Menschen ohne Land» war der Slogan von Zionistenführer Israel Zangwill. Er hallt noch heute nach.
Bakleh ging auf eine private katholische Schule in Ostjerusalem, die von christlichen und muslimischen Palästinensern besucht wurde. Ihr arabisches Geschichtsbuch, Teil des von Israel genehmigten Lehrplans, erwähnte weder die palästinenische Geschichte noch den israelisch-palästinensischen Konflikt.
Mehr über ihre eigene Geschichte erfuhr sie von ihren Eltern und Grosseltern sowie von Geschichtslehrern, die sich wagten, inoffiziell darüber zu reden.
Schwanz und Hörner
Ihre Mutter wurde 1948 in Haifa geboren. «Als sie ein Baby war, kamen zwei jüdische Frauen ins Haus, zerrten an ihren Haaren und guckten in die Windeln. Juden lernten damals, dass Araber einen Schwanz und Hörner hätten.»
Für Bakleh symbolisiert diese Familiegeschichte vieles, was mit Israel heute falsch läuft. Araber würden in den Medien und in der Volkskultur verteufelt, sowohl in Israel wie auch im Westen. Sie würden als verarmt, ungebildet und gewalttätig dargestellt, ein Bild, das sich durch Selbstmordattentate während der zweiten Intifada verstärkt habe.
Bakleh hat wenig übrig für die vielen Hilfsprogramme, die im Rahmen des Friedensprozesses entstanden, um Israelis und Palästinenser näherzubringen. Sie befassten sich nicht mit den wirklichen Problemen und Hindernissen, mit denen die Palästinenser konfrontiert seien, wenn sie versuchten, ein normalies Leben zu leben, sagt sie.
Israel hält 40 Prozent des Westjordanlandes besetzt. Israelische Siedlungen – gemäss internationalem Recht illegal -, Militärstützpunkte, Strassennetzte, Hunderte von Checkpoints und Strassensperren zerstückeln palästinensisches Gebiet.
Blockade
2005 begann Israel mit dem Bau eines acht Meter hoher Grenzzauns. Dereinst dürfte er sich 700 km lang durch fruchtbarstes Land des Westjordanlandes ziehen. Diese Mauer hat das Leben der Palästinenser weiter eingeschränkt, indem sie Land zerschnitt, Familien auseinanderriss, ihnen Einkommen und Wasserversorgung nahm.
Im Gazastreifen leben 1,4 Millionen Palästinenser unter israelischer Blockade, seit die militante Hamas im Juni letzten Jahres die Kontrolle übernommen hatte.
Shireen Bakleh glaubt, dass während dem zweiten Besuch von US-Präsident Bush in diesem Jahr in Jerusalem das grösste Hindernis bei den israelisch-palästinensischen Gesprächen nicht erwähnt wurde.
«Von klein an wird den Israelis eingetrichtert, sie müssten vor allen Arabern und Palästinensern Angst haben, und befürchten, ihr Land werde angegriffen. Dieser Angst-Faktor und nicht die Atombombe, ist die grösste Waffe im Arsenal Israels.»
swissinfo, Victoria Bruce, Jerusalem
(Übertragung aus dem Englischen: Gaby Ochsenbein)
Am 14. Mai 1948 verlas David Ben Gurion, erster Ministerpräsident des Landes, die Unabhängigkeits-Erklärung Israels. Der neue Staat entstand aufgrund eines Beschlusses der UNO, der Westpalästina in einen jüdischen und einen arabischen Staat teilen wollte. Die Araber lehnten den Plan von Anfang an ab. Es kam zum Krieg.
In Israel leben heute 7,82 Millionen Menschen, 20% sind Araber. Im Westjordanland und im Gazastreifen leben 3,8 Millionen Palästinenser. 2007 wohnten 450’000 Israelis in 149 Siedlungen im Westjordanland, darunter Ostjerusalem.
2005 zog sich Israel aus Gaza zurück. Seit Juni 2007 ist Gaza abgeschnitten; dies nachdem die militante Hamas die Wahlen gewonnen hatte. Die Blockade ist die Antwort Israels auf die Raketenangriffe der Hamas auf israelische Städte.
Die Folgen für die Bevölkerung sind verheerend: In Gaza ist die Wirtschaft zusammengebrochen. 70% der Bevölkerung sind von UNO-Nahrungsmittelhilfe abhängig.
Das Westjordanland lebt von Handel und Geld, das Palästinenser in Israel verdienen. 23,4% der Menschen im Westjordanland sind ohne Arbeit.
Heute leben 80% der palästinensischen Flüchtlinge in Gaza und der Westbank unter der Armutsgrenze. Im Jahr 2000 waren es 20%.
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