Ägyptens Armee als Zünglein an der Waage
In Ägypten wird weiter für den sofortigen Rücktritt Präsident Mubaraks demonstriert. Die Lage hat sich zwar beruhigt, ist aber immer noch angespannt. Die Armee schaut immer noch zu. Wer sind diese Streitkräfte? Ein Gespräch mit einem Experten.
Die ägyptische Armee hatte zu Beginn der Massendemonstrationen gegen das Mubarak-Regime versprochen, nicht auf das Volk zu schiessen. Später dann ermahnten die Streitkräfte die Demonstranten, jetzt nach Hause zu gehen, man habe ihre Forderungen erhört.
Die Armee ist ein historisch wichtiger Machtfaktor im Land am Nil. Der Schweizer Militärstratege Albert A. Stahel blickt für swissinfo.ch hinter deren Kulisse.
swissinfo.ch: Gibt es Druck von Innen oder Aussen auf die ägyptische Armee, damit diese weiterhin zurückhaltend agiert?
Albert A. Stahel: Ja, es gibt schon Druck. Es gibt einerseits Druck aus Richtung Israel. Dann gibt es natürlich Druck aus den USA. Aber dieser Druck könnte kontraproduktiv sein.
swissinfo.ch: Inwiefern?
A.A.S.: Die ägyptische Armee besteht aus drei Teilen. Der grösste Teil ist das Heer mit ungefähr 280’000 bis 320’000 Männern, und zu zwei Dritteln sind das Wehrpflichtige – wie in der Schweiz. Damit haben wir keine Söldnerarmee im Dienst eines Despoten, die ist natürlich dem Volk zugewandt. Andererseits dienen die Mitglieder der Generalität als Hofschranzen für Präsident Mubarak. Die Hauptleute und subalternen Offiziere dagegen sind eher den Soldaten zugewandt.
In Ägypten gibt es eine Art Militärgeschichte, die zurückgeht auf Oberst Gamal Abdel Nasser, der 1952 zusammen mit General Ali Muhammad Nagib mit einem Militärputsch König Faruk stürzte. 1954 entmachtete Nasser Nagib und ersetzte ihn als Staatspräsidenten. Also diese Armee, besser gesagt vor allem das Heer, hat so etwas wie ein eigenständiges Leben.
swissinfo.ch: Das ist also der Grund dafür, dass die Armee Sympathie und Vertrauen der Demonstrierenden geniesst?
A.A.S.: Ja, vor allem das Heer. Aber das Verhaltensmuster der Armeeführung, dass man Druck ausübt und sagt, Mubarak soll zwar zurücktreten, aber mit Würde, könnte sogar kontraproduktiv sein. Denn gerade die Hauptleute und subalternen Offiziere könnten plötzlich sagen, jetzt machen wir einen Putsch.
swissinfo.ch: Will die Armee mit ihrer Zurückhaltung vor allem ihre Schlüsselrolle in der Frage der Mubarak-Nachfolge und im politischen Alltag des Landes erhalten?
A.A.S.: Ja. Aber da muss man wieder differenzieren und sagen: Die Hofschranzen, die stehen natürlich hinter Mubarak und verdienen an dessen Regime, vor allem die pensionierten Generäle, die sind Unternehmer und Mubarak-hörig.
Aber das Fussvolk, die Wehrpflichtigen, die sind natürlich nicht auf Mubarak orientiert.
swissinfo.ch: Gibt es auch noch einen Graben zwischen der jungen und der alten Garde der ägyptischen Armee?
A.A.S.: Ja. Die junge Garde, das sind die Hauptleute, die subalternen Offiziere und die Mehrheit der Soldaten. Die alte Garde, das sind die Hofschranzen, die Generäle und natürlich der Feldmarschall.
swissinfo.ch: Ist die Stärke der Armee der Hauptgrund für die bisherige politische Zurückhaltung der Muslimbrüder?
A.A.S.: Das hat teilweise damit zu tun. Ich meine aber, dass die Muslimbrüder an Glaubwürdigkeit verloren haben. Dieser Aufruhr in Ägypten ist nicht ein muslimischer, er wird bestimmt durch junge Leute, die über Internet, Facebook orientiert sind.
swissinfo.ch: Die ägyptische Armee ist stark in die Wirtschaft des Landes involviert, vom Strassenbau über Immobilien bis zum Tourismus. Ist das ein Einzelfall, oder spielen die Armeen anderer arabischer Länder, Tunesien, Algerien, eine ähnliche Rolle?
A.A.S.: Eher Algerien, Tunesien nicht, Jordanien schon gar nicht, das ist im ursprünglichen Sinne eine Beduinen-Armee. Nein, da gibt es wirklich unterschiedliche Entwicklungen. Ägypten ist da eher verwandt mit Algerien.
swissinfo.ch: Gibt es Verbindungen und Kontakte zwischen den Militärführern arabischer Staaten? Wie eng sind die Verbindungen zur israelischen Armee?
A.A.S.: Verbindungen gibt es vor allem zu Sudan, weniger zu anderen arabischen Staaten. Und dann gibt es Verbindungen der Hofschranzen zu den Israeli.
swissinfo.ch: Können Armeen wie die ägyptische oder tunesische die Menschenrechte überhaupt garantieren? Muss eine Armee dazu nicht einer Demokratie unterstellt sein?
A.A.S.: Ich glaube schon, dass diese Armeen eher die Menschenrechte garantieren, als wenn beispielsweise Ägypten eine Berufsarmee hätte. Ich würde fast sagen, es ist ein Segen, dass dieses Heer zu zwei Dritteln aus Wehrmännern aus dem Volk besteht.
swissinfo.ch: Die Armee als totaler Garant der Menschenrechte?
A.A.S.: Das gibt es natürlich nie. Auch in anderen Staaten als Ägypten nicht.
swissinfo:ch: Ihre Prognose für die nächste Zukunft Ägyptens?
A.A.S.: Prognosen in diesen Zeiten sind schwierig. Man kann eigentlich nur hoffen.
Die Europäer spielen eine ganz schlechte, ja eine miese Rolle. Mubarak kommt wieder nach Deutschland, für eine Operation. Frau Merkel sagt, man muss warten, Mubarak soll in Würde abtreten, und was weiss ich alles. Nicht ganz so schlimm ist es bei den USA, aber der Ruf nach dem Rücktritt Mubaraks ist auch nicht sehr laut.
Ich glaube, das ist die falsche Karte, die falsche Richtung. Mubarak müsste so schnell wie möglich abtreten und so schnell wie möglich durch eine Übergangsregierung ersetzt werden.
Die ägyptische Armee ist rund 468’000 Mann stark, dazu kommen 480’000 Reservisten. Männer zwischen 18 und 49 Jahren müssen in einem Wehrpflichtsystem für ein bis drei Jahre Dienst leisten.
Die Armee gilt als zentraler Pfeiler und mächtigste Institution Ägyptens in den letzten sechs Jahrzehnten.
Präsident Hosni Mubarak ist Oberbefehlshaber der Armee, viele amtierende und pensionierte Armeegeneräle belegen wichtige Positionen in den verschiedenen Bereichen der Regierung. Alle Präsidenten des Landes haben seit 1952 einen militärischen Hintergrund.
Laut Experten ist die Armee eng mit der Wirtschaft des Landes verflochten, vom Waffengeschäft zum Strassenbau, von Immobilien bis zum Tourismus.
Seit den 1970er-Jahren unterstützen die USA die ägyptische Armee finanziell jährlich durchschnittlich mit 2 Mrd. Dollar (1,9 Mrd. SFr.). Viele ägyptische Offiziere wurden in den USA ausgebildet, und Washington verkaufte Ägypten Hightech-Waffen.
Eine Bewegung von Armeeoffizieren unter dem späteren Präsidenten Nasser spielte eine Schlüsselrolle bei der Entmachtung von König Faruk im Jahr 1952.
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