Altersheime für Junkies?
Die Drogenpolitik des Bundes zeigt ihre Wirkung: Die Junkies werden immer älter. Eine Herausforderung für die Notschlafstelle Luzern. Sie plant deshalb, ein Altersheim für Drogenkonsumenten zu eröffnen - ähnliche Projekte gibt es bereits in Zürich und Basel.
Die 6 Zimmer mit den 15 Betten sind spartanisch eingerichtet: Neonlampen und grüner Linoleumboden gehören zur Standard-Ausrüstung.
Die Wände sind grösstenteils kahl. Schränke gibt es keine.
In den Zimmern finden sich nur wenige Habseligkeiten der Bewohner.
Ein Koffer oder eine Tasche neben dem Bett, ein auf dem Kopfkissen sorgfältig ausgebreiteter Pijama, ein After-Shave oder ein Duschzeug auf dem Stuhl, eine zerknüllte Zigaretten-Schachtel am Boden.
«Es ist nicht das Ziel, dass sich die Leute hier häuslich niederlassen, sondern dass sie möglichst wenig lange bleiben», sagt Urs Schwab, Leiter der Notschlafstelle Luzern «Obdach».
Personen bleiben länger
Im Moment passiert jedoch genau das Gegenteil: Immer mehr Personen suchen für längere Zeit Zuflucht in der Notschlafstelle. Blieben sie 2004 durchschnittlich 10 Nächte, waren es 2008 15,5 Nächte.
Gemäss Schwab ist das denn auch der Grund für die Rekordbelegung 2008: Die Notschlafstelle zählte rund 4100 Übernachtungen, das sind 55 Prozent mehr als im Vorjahr und so viel wie noch nie seit ihrem über 20-jährigen Bestehen.
Dass Personen immer länger im «Obdach» übernachten, sei wohl auf das fehlende Angebot an kostengünstigen Wohnungen zurückzuführen, so Schwab. Die Stadt Luzern wies 2008 einen Leerwohnungsbestand von 0,81 auf.
Veränderung bei der Klientel
Schwab verweist aber auch darauf, dass sich die Klientel in den letzten Jahren insgesamt verändert hat. «Wir haben das Gefühl, dass es zunehmend schwieriger wird, gewisse Menschen zu betreuen, weil es der psychische Zustand der Betroffenen nicht zulässt.»
Dieses Phänomen sei insbesondere dadurch zu erklären, dass Psychiatrie-Patienten vermehrt ambulant behandelt würden. Diese Menschen hätte man wohl früher einfach in der psychiatrischen Klinik behalten und medikamentös ruhig gestellt, vermutet Schwab.
Eine weitere Veränderung in der Klientelstruktur, mit der die Notschlafstelle in den letzten Jahren zunehmend konfrontiert wird: ältere pflegebedürftige Junkies.
«Dank der Vier-Säulen-Drogenpolitik des Bundes werden Drogensüchtige heute älter», sagt Schwab. Die körperliche und geistige Verfassung eines 50-jährigen Drogenkonsumenten entspreche jedoch etwa jener eines 70-Jährigen.
Wie etwa aus dem Jahresbericht 2007 zur heroingestützten Behandlung hervorgeht, stieg die Zahl der über 55-jährigen Patienten von 4 im Jahr 2005 auf 19 im Jahr 2007. «Es ist zu erwarten, dass die Gruppe älterer Patienten weiter ansteigen wird», heisst es.
«Nicht menschenwürdig»
«Diese Leute sind hier absolut nicht am richtigen Ort, wir haben weder die Infrastruktur, noch die Ausbildung, um sie adäquat zu betreuen», so Schwab. «Es ist nicht menschenwürdig, dass pflegebedürftige Menschen in einer Notschlafstelle logieren.» Sie hätten im «Obdach» auch nicht die Kapazitäten, sich entsprechend um diese Leute zu kümmern.
Die Platzierung von langjährigen Drogenkonsumenten in Altersheimen habe zu massiven Problemen geführt. «Bringt man Drogensüchtige in einem Altersheim unter, muss man alle Medikamente anbinden», sagt Schwab.
Der Verein Jobdach, zu dem die Luzerner Notschlafstelle gehört, erarbeite deshalb gegenwärtig ein Wohnkonzept für ältere Drogen-, Alkohol- und Medikamentensüchtige. Laut einer Erhebung bei den Sozialämtern gibt es im Kanton Luzern rund 80 betroffene Personen.
Grosse Nachfrage
In Zürich besteht seit 2007 ein ärztlich betreutes Wohnhaus (BeWo City), das sich in erster Linie an Personen mit einer jahrzehntelangen Drogen-Karriere richtet. Viele der Bewohner waren vorher obdachlos. Die meisten von ihnen werden mit Methadon oder Buprenorphin behandelt. Der Konsum von illegalen Drogen ist im Wohnhaus erlaubt.
«Das Konzept hat sich bewährt», sagt Marianne Spieler, die Leiterin von BeWo City. «Die Nachfrage ist gross, es braucht mehr solche Einrichtungen.»
Im «Sternenhof» in Basel ist am 1. Juli ein Pilotprojekt für ältere Suchtkranke gestartet.
Aufgabe der Notschlafstelle?
Ist es – wie etwa in Luzern – Aufgabe der Notschlafstelle, sich um solche Strukturen zu kümmern? «In unserem föderalistischen System ist die Regelung dieser Entwicklung nicht Sache des Bundes, da die zu lösenden Probleme sozialer, gesundheitlicher und struktureller Natur sind», sagt Mona Neidhart, Mediensprecherin beim Bundesamt für Gesundheit (BAG).
Spezielle Altersheime für drogenabhängige Personen schaffen oder die betroffenen Personen in bestehende Altersheime integrieren, diese Entscheidung falle in die Kompetenz der Gemeinde- und Kantonsbehörden.
Lebenslange Betreuung?
Widerspricht die Schaffung von Altersheimen für Drogensüchtige, von einer Betreuung bis ins hohe Alter, bis hin zum Tod, nicht dem eigentlichen Ziel der Drogenpolitik, nämlich der Abstinenz?
«Bei der Sucht handelt es sich gemäss den jüngsten neurowissenschaftlichen Erkenntnissen um eine chronische Krankheit», sagt Neidhart. «Es kann deshalb nicht von jeder süchtigen Person erwartet werden, dass sie abstinent wird.» Es könne also sein, dass die Substitutions-Programme mit Methadon, Buprenorphin und Diazetylmorphin bis ins hohe Alter und bis zum Tod fortgesetzt werden müssten. «Es geht dabei oft um palliative medizinische Behandlungen», so Neidhart.
«Wir sind nahe daran, eine lebenslange Betreuung für Drogenabhängige anzubieten», gibt Schwab zu bedenken. Das mache diesen allerdings den Ausstieg nicht einfacher.
Corinne Buchser, Luzern, swissinfo.ch
In Zürich erlangte die offene Drogenszene auf dem Zürcher Platzspitz Ende der 1980er-Jahre traurige Berühmtheit. 1991 wurde er geräumt.
1986 wurde in Bern das erste Fixerstübli als Anlaufstelle mit medizinischer Beratung für Drogenabhängige eröffnet: die Abgabe von sauberen Spritzen und die Frage, ob der Staat den Konsum illegal erworbener Drogen in betreuten Räumen tolerieren darf, führten zu einem Meinungsstreit.
1994 wurden die erste Programme der staatlichen Methadonabgabe unter medizinischer Aufsicht eingeführt.
Im November 2008 hat das Schweizer Stimmvolk das revidierte Betäubungsmittelgesetz angenommen. Die Stimmbürger sagten damit Ja zur gesetzlichen Verankerung der ab 1992 aufgebauten Vier-Säulen-Konzepts, das auf Prävention, Therapie, Schadensminderung und Repression basiert. Auch die kontrollierte Heroinabgabe erhielt dadurch eine gesetzliche Grundlage.
Ende Juli 2008 waren in der Schweiz 1300 Heroin-Patienten in 21 ambulanten Zentren und 2 Gefängnissen registriert.
16’000 Personen beziehen in der Schweiz das Ersatzmittel Methadon.
In den USA und England gibt es Prognosen, dass sich der Anteil der älteren pflegebedürftigen Drogenkonsumenten in den nächsten fünf bis zehn Jahren verdoppeln oder gar verdreifachen wird. Wie und wo man die von jahrzehntelangen Drogenkarrieren geprägten Menschen behandeln will, darüber bestehen bisher erst wenig Konzepte.
Das EU-Projekt «Senior Drug Dependents and Care Structures», an dem Forschungsgruppen aus Deutschland, Österreich, Polen und Schottland beteiligt sind, will verschiedene Fragen im Zusammenhang mit dem Thema «Drogenabhängigkeit im Alter» klären. Dabei sollen namentlich die Ausmasse dieser Problematik analysiert werden.
Die Studiengruppen wollen bis 2010 länderspezifische Konzepte zur Implementierung bzw. Optimierung von ambulanten und stationären Einrichtungen für ältere pflegebedürftige Drogensüchtige erarbeiten.
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