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«Die Schweiz braucht eine starke Sozialdemokratie»

Christian Levrat will die SP wieder zu einer starken Partei machen. Keystone

Am 1. März wählt die Sozialdemokratische Partei der Schweiz (SP) ihren neuen Präsidenten. Die Wahl ist unumstritten, denn einziger Kandidat ist der Parlamentarier und Gewerkschafter Christian Levrat.

Im Interview mit swissinfo spricht der Nationalrat über seine wichtigsten Ziele für die Präsidentschaft.

swissinfo: Der SP wurde oft vorgeworfen, sich zu weit von ihrer Basis – der Arbeiterschaft – zu entfernen und zu einer Partei der Besserverdienenden zu werden. Was sagen Sie dazu?

Christian Levrat: Ich bezweifle, dass dies stimmt. Hingegen ist es eine Realität, dass die Wähler, die uns bei den Sozialversicherungen, den Löhnen oder den öffentlichen Diensten folgen, abspringen, wenn es um Migration und Gewalt geht.

Wir haben glaubwürdige Antworten auf diese Fragen, schaffen es aber nicht, sie rüberzubringen. Wir werden dauernd in die Ecke der Naiven gestellt. Doch das sind wir nicht.

Es sind häufig Sozialdemokraten, die eine minimale Polizeipräsenz an heiklen Orten garantieren oder für jugendliche Delinquenten eigene geschlossene Räume fordern.

swissinfo: Man sagt Ihnen nach, dass Sie an der Entmachtung von Christoph Blocher im Bundesrat beteiligt waren. Wird Ihnen dies nicht schaden, da Sie doch als Präsident einer Regierungspartei auch mit der Schweizerischen Volkspartei (SVP) zusammen arbeiten müssen?

C.L.: Ich habe kein persönliches Problem mit den Führungskräften der SVP. Im Moment gibt es auf politischer Ebene aber nur wenige Themen, bei denen die Sozialdemokraten mit der SVP zusammen arbeiten könnten.

Wir sehen uns einer Partei gegenüber, die den Finanzplatz und das Geld gegen die Interessen der Angestellten verteidigt.

Wir müssen vor allem mit der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP) gemeinsame Lösungen finden, hauptsächlich im Bereich der Sozialversicherungen und der Umweltpolitik.

swissinfo: Sie sind der einzige Kandidat für die Präsidentschaft der SP. Ist dieses mangelnde Interesse für das Spitzenamt der zweitgrössten Partei im Land nicht etwas seltsam?

C.L.: Die optimistische Erklärung ist, dass die Partei mir vertraut. Sie glaubt, dass ich fähig bin, sie im Hinblick auf die Wahlen 2011 wieder auf Kurs zu bringen.

Die pessimistische Erklärung wäre, dass wir keine Chance haben, wieder in Form zu kommen und dass besser ich als jemand anderes das Scheitern auf mich nehmen soll. Aber das glaube ich nicht.

swissinfo: Wie sehen Sie die Sozialdemokratische Partei, kurz bevor Sie deren Führung übernehmen?

C.L.: Unsere Parteimitglieder sind aussergewöhnlich. Seit drei Monaten gehe ich von Sektion zu Sektion, um mit ihnen zu sprechen und zu hören, was sie zu sagen haben. Das erfüllt mich mit einer grossen Motivation für die nächsten Jahre.

Aber es wäre falsch, zu verschweigen, dass es der Partei im Moment nicht gerade gut geht. Im letzten Oktober haben wir unsere schlimmste Wahl-Niederlage seit 1945 erlebt.

Es ist entscheidend, dass wir uns wieder aufrappeln. Nicht nur für uns selbst, sondern auch für das Land. Die Schweiz braucht eine starke Sozialdemokratie, eine Partei, die nahe bei den Leuten ist und nicht nur bei den grossen Unternehmen und und den Finanzkreisen.

swissinfo: Wie lässt sich der Verlust bei den letzten Wahlen erklären?

C.L.: Es gibt drei Erklärungsebenen. Zuerst einmal machten wir eine schlechte Kampagne. Wir konnten unsere Themen nicht durchsetzen. Die Debatte lief vor allem über die Zusammensetzung der Regierung.

Aber man gewinnt keine Wahlen mit einer Kampagne über die Wiederwahl von Bundesrat Christoph Blocher, sondern indem man mit den Leuten über ihre Sorgen spricht und Lösungen dafür anbietet.

Weiter waren die generellen sozialen Entwicklungen – die so genannten Mega Trends – ungünstig für uns. Die sehr gute wirtschaftliche Lage führte dazu, dass sich die Wähler von sozialen Themen weniger angesprochen fühlten.

Ausserdem kostete uns die Dominanz der Klimadebatte viele Stimmen. Die Grünen gelten bei diesem Thema als kompetenter als wir.

Dies ist allerdings ein falscher Eindruck, denn die umweltpolitischen Projekte, die in den letzten Jahren umgesetzt wurden, sind dem Engagement der SP und ihrem Minister Moritz Leuenberger zu verdanken. Eines meiner Ziele ist, dass die Arbeit der SP künftig besser anerkannt wird.

Was mich aber am meisten beunruhigt, ist, dass die SP ihren militanten Charakter verloren hat, der sie früher charakterisierte. Wir müssen neue Mitglieder finden und uns um deren politische Bildung kümmern. Die Niederlage im Oktober hat wie ein Schock gewirkt, und bei meinen Besuchen in den Sektionen habe ich das Wiedererwachen der Partei bereits gespürt.

swissinfo: Was motiviert Sie, SP-Präsident zu werden?

C.L.: Ich will mich in den Dienst der Partei stellen, um sie für 2011 wieder zu einer starken Partei zu machen.

Denn wenn wir nichts tun, wird die SP weiter an Terrain verlieren. Ich bin überzeugt, dass die Schweiz eine starke SP braucht.

swissinfo: Welches ist Ihre grösste Qualität und welches Ihr grösstes Defizit?

C.L.: Meine grösste Qualität ist wohl mein Enthusiasmus. Wenn ich etwas tue, dann engagiere ich mich voll und ziehe die Sache durch.

Mein grösster Fehler ist die Ungeduld. Ich will schnell Ergebnisse sehen, aber die Wirklichkeit ist oft langsamer.

swissinfo-Interview: Olivier Pauchard
(Übertragung aus dem Französischen: Susanne Schanda)

Die Sozialdemokratische Partei der Schweiz (SP) wurde 1888 gegründet und blieb während mehreren Jahrzehnten in der Opposition.

1943 wurde die SP die stärkste politische Partei im Lande und erreichte einen Sitz im Bundesrat, 1959 den zweiten. Trotzdem stand sie weiterhin in Opposition zu den drei anderen Regierungsparteien.

Sie politisiert auf der linken Seite des politischen Spektrums: Soziale Gerechtigkeit, Solidarität und mehr Lebensqualität.

Seit 1999 ist die SP die zweitstärkste Partei im Parlament.

Sie hat zwei Vertreter in der Landesregierung: Aussenministerin Micheline Calmy-Rey und Umweltminister Moritz Leuenberger. Ausserdem 43 Nationalräte und 9 Ständeräte.

Der zukünftige SP-Präsident, der im Juli 38 Jahre alt wird, ist in La Tour-de-Trême im Kanton Freiburg geboren. Er ist verheiratet und Vater dreier Kinder.

Nach einem Lizentiat an der Juristischen Fakultät der Universität Freiburg hat er ein Masters in Politischen Wissenschaften der Universität Leicester (Grossbritannien) und ein Management-Diplom der Universität Freiburg erhalten.

Beruflich ist Christian Levrat Präsident der Gewerkschaft Kommunikation. Ausserdem ist er Vizepräsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds.

Von 1998 bis 2000 war er Chef des Rechtsdiensts der Schweizerischen Flüchtlingshilfe.

Er ist seit 2004 im Nationalrat.

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