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«Die Schweiz hat Libyen unterschätzt»

Hat die Schweiz unter Druck gesetzt: Moammar Gadhafi. Keystone

In die Krise zwischen der Schweiz und Libyen ist Bewegung gekommen. Der Genfer Staatsanwalt hat das Verfahren gegen Hannibal Gaddafi und dessen Frau eingestellt. Das sei ein "grossartiges Geschenk" an Libyen, kritisiert Arabien-Spezialist Hasni Abidi im swissinfo-Interview.

Abidi ist Direktor des Genfer «Centre d’études sur le monde arabe». Die Einstellung des Verfahrens hinterlasse einen bitteren Nachgeschmack, auch wenn die beiden Hausangestellten eine Entschädigung in unbekannter Höhe und eine humanitäre Aufenthaltsbewilligung erhalten hätten.

swissinfo: Was halten Sie von diesem Entscheid der Genfer Justiz?

Hasni Abidi: Das ist ein grossartiges Geschenk an das Regime Gaddafi, das zurzeit den 39. Jahrestag der libyschen Revolution feiert. Man muss wissen, dass ein Teil der Libyer gehofft hatte, endlich würde ein Land den Sohn Gaddafis in die Schranken weisen und über diesem Umweg auch das Regime.

Leider wurde dieser Prozess nun abrupt gestoppt. Das traurigste daran ist, dass dieser brutale Stopp die Folge eines juristischen Entscheides ist, denn juristische Entscheide sind Urteile.

swissinfo: Die Genfer Justiz hat ja mehrmals betont, sie handle unabhängig. Hat sie das getan?

H.A.: Da bleibt noch vieles im Dunkeln. So haben die beiden Kläger von Beginn weg bekräftigt, sie würden ihre Klage nicht zurückziehen, insbesondere nicht, bevor ihre Familienmitglieder in Sicherheit seien. Und von einem Tag auf den andern ziehen sie ihre Klage zurück. Und das, obwohl sie keine Neuigkeiten haben vom Bruder des Klagenden.

Zu glauben, wie das der Anwalt der Kläger offenbar tut, das UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte könne sich um den verschwundenen Bruder kümmern, ist zumindest naiv. Es reicht, an die 1200 im Jahr 1996 im Abou Salim-Gefängnisses in Tripolis Verschwunden zu erinnern. Keiner internationalen Organisation ist es gelungen, auch nur ansatzweise eine Untersuchung zu führen.

Sicher, die Kläger waren auch vom Klima rund um die Affäre beeinflusst. Dies vor allem, seit die Schweizer Regierung erklärt hatte, der Ball liege bei der Genfer Justiz, was im Klartext heisst, dass lediglich die beiden Kläger den Weg aus der Krise weisen konnten.

Können Sie sich ein Land vorstellen, das einen Ausweg zu Beilegung einer Krise sucht, indem es erklärt, der Schlüssel dazu liege bei zwei Hausangestellten? Das war auf jeden Fall eine sehr grosse Belastung für die beiden Kläger.

swissinfo: Die Krise zwischen der Schweiz und Libyen ist noch nicht vollständig gelöst. Wie beurteilen Sie die Reaktionen der Schweizer Regierung generell?

H.A.: In der arabischen Welt sagt man, ein guter Chef sei einer, der ein schlecht gekochtes Gericht noch retten kann. Im vorliegenden Fall ist es der Schweizer Diplomatie nicht gelungen, sich erfolgreich aus der Schlinge zu ziehen. Die offizielle Schweiz konnte nicht parallel zur Genfer Justizmaschinerie handeln.

Das libysche Regime konnte sich einfach aus der Affäre ziehen. Man kann also sagen, dass die Schweizer Diplomatie – mangels einer genauen Lagebeurteilung und mangels Antizipation – die möglichen Folgen der Gaddafi-Verhaftung nicht genau abwägen konnte.

swissinfo: Hat die Schweiz das Erdölland Libyen unterschätzt?

H.A.: Das ist der Kern des Problems. Die Schweiz hat das Gewicht Libyens unterschätzt. Dieses Regime ist verblendet durch seine Macht. Nicht nur wegen den grossen Ölreserven, sondern auch wegen seiner Rehabilitation durch die internationale Gemeinschaft.

So hat sich Italien vor wenigen Tagen offiziell für die Jahre der Kolonisation Libyens entschuldigt und das Land grosszügig entschädigt und am Freitag wird die amerikanische Aussenministerin Condoleezza Rice in Tripolis ein wichtiges Abkommen unterzeichnen.

swissinfo-Interview: Frédéric Burnand, Genf
(Übertragung aus dem Französischen: Andreas Keiser)

15. Juli: Hannibal Gaddafi, ein Sohn des libyschen Staatschefs, und seine schwangere Frau werden in Genf festgenommen. Sie sollen zwei Hausangestellte misshandelt haben.

17. Juli: Die beiden werden nach zwei Nächten entlassen.

19. Juli: In Libyen werden zwei Schweizer festgenommen, angeblich wegen Verstössen gegen Einwanderungs- und andere Gesetze.

23. Juli: Libyen droht mit dem Stopp von Öllieferungen in die Schweiz.

25. Juli: Das EDA spricht von einer «Krise» in den Beziehungen Schweiz-Libyen.

26. Juli: Libyen verlangt eine Entschuldigung der Schweiz für die Festnahme und eine Einstellung des Verfahrens.

28. Juli: Die Schweiz und Libyen verhandeln in der Affäre Gaddafi direkt miteinander.

29. Juli: Die beiden inhaftierten Schweizer kommen gegen Kaution frei.

13. August: Anwälte geben in Genf bekannt, dass die beiden Kläger die Anzeige gegen das Ehepaar Gaddafi nicht zurückziehen.

15. August: Libyen lässt die Mutter des Bediensteten frei und lässt sie in ihr Heimatland Marokko reisen. Das Schicksal des Bruders des Bediensteten bleibt weiter ungewiss.

2. September: Die beiden Kläger ziehen ihre Anzeige gegen das Eehepaar Gaddafi zurück.

3. September: Der Genfer Staatsanwalt stellt das Verfahren gegen das Ehepaar Gadaffi ein.

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