Die Schweiz verstehen – nach Appenzell gehen
2005 feiert das Appenzell 600 Jahre Selbstbestimmung. Vor allem Ausländern erscheint dies eine einzigartig lange Epoche.
Das Jahr 2005 wird in Appenzell auch als 600 Jahre Landsgemeinde gefeiert. Gesamtschweizerisch gilt die Landsgemeinde als Urform der direkten Demokratie.
Zahlreiche der Charakteristiken und Denkarten, die die gesamte Schweiz prägen, zeichnen – teils noch ausgeprägter – auch das Appenzell.
Wie die Schweiz insgesamt hat sich auch Appenzell früh vom Feudalismus losgekoppelt. Es folgte bis heute eine lange Tradition von 600 Jahren Landsgemeinde, was nichts anderes ist als Direktdemokratie auf kantonaler Ebene.
Gegen den Obrigkeitsstaat
Appenzell verfügt über eigene Heldenmythen, kennt die Reformationsspaltung («Käshörnli-Graben»), pflegt die Denkmuster von der Souveränität als höchstem Gut, oder, umgekehrt formuliert, die Respektlosigkeit vor Mächtigen, früher den Habsburgern und den Klöstern, heute Bundesbern und der EU.
Innerhalb der Eidgenossenschaft steht Appenzell als Extrem für das (zu) späte Frauenstimmrecht oder für den fest im Föderalismus verwurzelten Eigensinn, sprich Neinsagertum.
Hinter der folkloristischen Fassade des Appenzellertums kommen die vielen Eigenarten, die während dem Jubiläumsjahr 2005 in der bergigen Region von den Bewohnern und Bewohnerinnen selbst gefeiert werden, in Ansprachen, Theateraufführungen und Publikationen zum Ausdruck.
600 Jahre Männerstimmrecht
Eigentlich feiere man in Appenzell dieses Jahr mit dem Jubiläum der Schlacht am Stoss auch 600 Jahre Männerstimmrecht, sagt Roland Inauen, Konservator des Museums Appenzell, gegenüber swissinfo. Denn erst der Sieg am Stoss habe die Landsgemeinde ermöglicht, die ohne Unterbruch bis heute funktioniere.
«Nur während zwei oder drei Jahren unter Napoleons Herrschaft gab es den grossen Kanton Säntis, der auch Teile von St. Gallen umfasste. Das war zu gross für Landsgemeinden. Doch nachher wurde die alte Ordnung wieder hergestellt.»
Frauenfrage: Blosse Legende oder erhabener Mythos?
Was der Schweiz ihr fiktiver Nationalheld Wilhelm Tell, ist den Appenzellern ihr Ueli Rotach; was der Schweiz ihr Krieg gegen Burgund, ist den Appenzellern ihre Schlacht am Stoss; was der Schweiz ihre Religionskriege sind, ist den Appenzellern ihre «Landteilung»: Innerrhoden blieb katholisch, Ausserrhoden wurde protestantisch.
Was der gesamten Schweiz ihre im Europavergleich späte Emanzipation der Frau ist, sind dem Appenzell die Nachwehen des erst 1991 auf kantonaler Ebene eingeführten Frauenstimmrechts – und die Legende, wonach der Erfolg der Schlacht am Stoss eigentlich den Frauen zu verdanken ist.
«Offenbar sollen bei der Schlacht am Stoss die Appenzeller Männer mächtig von den Habsburgern in Bedrängnis gebracht worden sein», interpretiert eine Appenzellerin, die nicht genannt werden will, das offizielle appenzellische Geschichtsverständnis gegenüber swissinfo um.
«Darauf hätten sich dann die Frauen in Männerkleider gestürzt und seien den Männern zu Hilfe geeilt, indem sie Küchengeräte mitnahmen und einen Riesenkrach veranstalteten», so die Frau weiter.
«Der grosse Lärm sei bereits von den Feinden hinter den Hügeln zu hören gewesen, bevor diese die Frauen überhaupt erblicken konnten. Die Habsburger hätten wohl gedacht, da komme eine Reservearmee, was sie derart in Schrecken versetzt hätte, dass sie die Flucht ergriffen.»
«Und zum Dank haben uns die Männer während 600 Jahren das Stimmrecht verweigert», schliesst die Appenzellerin. Typisch sei, dass diese Episode als jüngere Legende qualifiziert werde, während der Stoss-Schlachtheld Ueli Rotach als älterer Mythos gelte.
Religions- sprich Käshörnli-Graben
Ein weiterer Mythos betrifft die «Landteilung», wie die religiöse Spaltung im Appenzell bezeichnet wird. «Wir danken dem Herrgott jährlich», sagte der Innerrhoder Landammann Carlo Schmid an der Stoss-Feier, «dass er uns von der kirchlichen Herrschaft erlöst hat.» Seit fast 400 Jahren ist das äussere Appenzell reformiert, und nur die Stoss-Kapelle liegt auf einer Art gemeinsamem Terrain der beiden Halbkantone.
Ausser der gemeinsamen Gedenkfeier Mitte Juni feiern die beiden Appenzell das 600 Jahres-Jubiläum aber separat. Die weiterhin vorhandene Abneigung sei heute nicht mehr religiös begründet wie früher, heisst es in Appenzell, sondern eher politisch.
Anders sieht dies Bundesrat Hans-Rudolf Merz: In seiner Botschaft zum Schlachtereignis zitiert er die «Landteilung» als Beispiel für eine «friedliche Zusammenarbeit». Inner- und Ausserrhoden seien einander nie gleichgültig gewesen, sondern hätten sich als Nachbarn respektiert und toleriert.
Merz, der Freisinnige, ist Ausserrhoder, die ehemalige Bundesrätin und Christdemokratin Ruth Metzler hingegen Innerrhoderin. Innerrhoden, heisst es in Appenzell, sei viel kompakter geblieben, während Ausserrhoden die Landsgemeinde aufgegeben und mit Abwanderung zu kämpfen gehabt hätte.
swissinfo, Alexander Künzle, Appenzell
Jubiläumsjahr 2005: Mehr als 30 Veranstaltungen.
Ausser der gemeinsamen Gedenkfeier werden die Feiern inner- und ausserrhodisch separat abgehalten.
Innerrhoden: Konzentriert sich auf die Traditionen und die Schlacht am Stoss (Mittelalter-Spektakel, Rotach-Festspiel).
Ausserrhoden: Hält sich mit 30 Events an die Gegenwart und will Bezüge schaffen.
Bevölkerung Appenzell I. Rh.: 1981: 12’781; 2001: 14’984
Bevölkerung Appenzell A. Rh.: 1981: 47’702; 2001: 53’233
Ende des 14. Jahrhunderts wollte das Kloster St. Gallen seine Herrschaft mit Hilfe der Habsburger verstärken.
Die Appenzeller verbündeten sich mit der Stadt St. Gallen. Im Juni 1405, vor 600 Jahren, besiegten die beweglichen Bauern an der Schlacht am Stoss die schwerfällig gepanzerten Ritter in einem Hinterhalt.
Seither pilgern die Innerrhoder Appenzeller jährlich zur Kapelle am Stoss («Stosswallfahrt»). Inzwischen sind auch Frauen und Protestanten zugelassen.
Erst 1513 stiess Appenzell zur Eidgenossenschaft.
Aus dem Jahr 1597 stammt der «Landteilungs-Brief», der den katholischen Teil von Innerrhoden vom reformierten Teil von Ausserrhoden trennt.
Seit 600 Jahren gibt es in Appenzell auch die direkte Demokratie, in Form von Landsgemeinden.
Das kantonale Frauenstimmrecht ist erst 1991 eingeführt worden, 20 Jahre nach der Einführung auf nationaler Ebene.
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