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«Die Schweizer Regierung hat Angst vor dem Volk»

Roland Bieber, Professor für Rechtsvergleichung und europäisches Recht. edipresse

Die unklare Haltung des Bundesrats in der Europa-Frage werde zusehends unglaubwürdig, sagt Rechtsprofessor Roland Bieber. Aufgabe einer Regierung sei es, klare Positionen zu beziehen.

Eine Sondermitgliedschaft in der EU gebe es nicht – auch nicht für die Schweiz.

Ein Beitritt der Schweiz zur Europäischen Union (EU) ist derzeit kein Thema. Der Bundesrat will den bilateralen Weg weiterverfolgen und vorerst nicht über einen Beitritt diskutieren.

Das strategische Ziel eines EU-Beitritts wurde entsprechend aus der Legislaturplanung des Bundesrates 2004-07 gestrichen. Das Beitrittsgesuch soll zwar nicht zurückgezogen werden, aber es soll weiterhin «eingefroren» bleiben.

Für Professor Roland Bieber, Direktor des Zentrums für europäisches Recht und Rechtsvergleichung an der Universität Lausanne, ist eine solch zögerliche Haltung einer Landesregierung nicht akzeptabel.

swissinfo: Die Schweizer EU-Politik ist unklar und widersprüchlich. Erwarten Sie in den nächsten Jahren eine Klärung?

Roland Bieber: Die Position der Schweiz zur Union ist tatsächlich sehr schwer verständlich. Die Schweiz wagt es nicht, klar nach innen und nach aussen zu sagen, dass sie weiterhin beitreten will und dass sie sich auch darum bemüht. Stattdessen meidet sie das Thema gegen innen, und gegen aussen vertritt sie halbherzig einen fernen Beitritt.

Das wird immer weniger glaubhaft, und es scheint mir auch kontraproduktiv zu sein. Niemand in der EU nimmt die Schweiz mit dieser Politik noch ernst. Das wirkt sich nicht nur auf einen möglichen Beitritt aus, sondern auch auf die Verhandlungen, die im Gange sind.

Man wird sehen, ob der Bundesrat in seinem allfälligen Zwischenbericht mehr Mut zeigt als in den letzten zehn Jahren.

swissinfo: Hat die Regierung zu wenig Rückgrat, zu wenig Führungsstärke?

R.B.: Ja. Der Bundesrat hat nicht den Mut, eine klare politische Position einzunehmen. Regierung und politische Mehrheit leben hier in einer ständigen Angst vor dem Volk, und das ist eine Katastrophe bei einer so schwierigen politischen Frage wie einem EU-Beitritt.

In Norwegen beispielsweise hat die Regierung klar die Position vertreten: Wir wollen den Beitritt. Und sie ist damit zwei Mal vor dem Volk gescheitert. Aber sie ist jedenfalls dazu gestanden, offen und öffentlich, auch im Innern. Das würde ich eigentlich von den politisch Verantwortlichen in der Schweiz erwarten.

swissinfo: Mittlerweile drängt auch die Wirtschaft nicht mehr auf einen EU-Beitritt. Wäre ein Rückzug des Beitrittsgesuchs nicht ehrlicher?

R.B.: Die gegenwärtige Situation ist extrem unbefriedigend, widersprüchlich und trägt nicht zum Ansehen der Schweiz bei. Ein Rückzug des Antrags wäre allerdings ein falscher Schritt, weil man dann wirklich den letzten Anknüpfungspunkt zur EU verlieren würde und wieder ganz bei Null anfangen müsste.

swissinfo: Glauben Sie denn, dass der Bundesrat und die politische Mehrheit in diesem Land einen Beitritt zur EU wirklich wollen?

R.B.: Da sind Zweifel tatsächlich angebracht. Einerseits möchten die Schweizer zwar die Vorteile erlangen, die eine Mitgliedschaft bringt. Andererseits möchte man keinerlei Risiken oder auch nur Ungewissheiten in Kauf nehmen. Und so zögert man eben weiter. Unter «Politik» verstehe ich etwas anderes. Dazu gehört auch Mut.

swissinfo: Die Schweiz scheint sich in ihrer Rolle als Einzelgängerin durchaus wohl zu fühlen.

R.B.: Die Schweiz kommt einem vor wie der alte Mann, der im obersten Stock eines Mietshauses wohnt und möglichst nicht gestört werden will. Ab und zu beschwert er sich über den Lärm und die Unruhe im Haus, ab und zu belehrt er die anderen, wie man es anders, besser tun könnte. Aber im Grunde geht ihn das alles nichts an und er will nur eines: Dass man ihn in Ruhe lässt.



Die Schweizer sollten sich aber bewusst sein, dass sie Teil des europäischen Hauses sind und nicht einfach ausziehen können. Sie sind – selbst in Wirtschaftskrisen – ganz normale, gewöhnliche Europäer – allenfalls mit ein paar eigenständigen Verfassungsbesonderheiten. Sie sollten sich nicht immer für etwas besseres halten.

Die Schweizer haben ja kein alternatives politisches oder soziales Modell – sie machen es genau wie die anderen Industriestaaten auch…

swissinfo: …aber sie können selber darüber entscheiden. Der Beitritt zur EU würde eine Initiativ- und Referendums-Demokratie im schweizerischen Ausmass nicht mehr zulassen.

R.B.: Gewiss, auf ein paar Traditionen muss man schon verzichten. Allerdings fasst die EU ihre Beschlüsse immer weniger in fixe Verordnungen, die im Landesrecht direkt angewendet werden müssen.

Der grösste Teil der Rechtssetzung geschieht heute in Form von Richtlinien, die von jedem einzelnen Staat selbständig in nationales Recht umgesetzt werden müssen. Da bleibt einiges an Spielraum.

Als Mitglied müsste die Schweiz zudem nicht mehr nur nachvollziehen, was die anderen Staaten in Brüssel beschlossen haben, sondern sie sässe mit am Tisch und könnte mitbestimmen.

Ich habe Mühe zu verstehen, warum ein so starker Staat wie die Schweiz nicht bereit ist, in einem solchen Verein mitzumachen. Es geht doch um mehr als nur um ein wirtschaftliches Abwägen. Es ist auch eine politische Frage.

Es geht um die Zukunft Europas als Ganzes und darum, dass die Schweiz Verantwortung trägt – nicht nur für ihr eigenes Wohlbefinden, sondern auch für den Rest Europas. Da genügt es nicht, irgendwo auf der Welt gute Ratschläge zu erteilen oder ein bisschen Entwicklungshilfe zu geben.

swissinfo: Aussenpolitische Vorlagen haben in der Schweiz einen schweren Stand. Verhindert die direkte Demokratie eine Öffnung?

R.B.: Sie kann eine Öffnung verhindern. Das ist ein strukturelles Problem, das jeder versteht, der mit der Schweiz zu tun hat. Aber man darf den Kampf doch nicht – bevor er überhaupt begonnen hat – schon verloren geben.

Ich habe den Eindruck, dass die politisch Verantwortlichen von vornherein sagen: Vor zehn Jahren darf man das Thema gar nicht wieder anpacken – anstatt sich darum zu bemühen und zu sagen: Wenn das Volk einmal Nein gesagt hat, dann heisst das nicht, dass das Volk sich nicht eines Besseren belehren lassen will.

Das Verhalten des Bundesrates und der politischen Mehrheit ist paradoxerweise nicht von einem Respekt gegenüber der Demokratie, sondern von der Angst vor der Demokratie gekennzeichnet.

swissinfo: Sie haben in einer Studie zur «Differenzierten Integration in Europa» untersucht, ob es für die Schweiz einen Mittelweg gäbe zwischen Beitritt und Nicht-Beitritt. Gibt es einen solchen Sonderweg?

R.B.: Das Modell der differenzierten Integration, das mit dem Vertrag von Amsterdam eingeführt worden ist, taugt nicht für die Schweiz.

Wenn die Schweiz eine solche teilweise Annäherung gewollt hätte, hätte sie sich dem EWR anschliessen müssen. Das war das einzige Modell, das man dafür geschaffen hat.

Die Union ist heute weiter davon entfernt als je zuvor, irgendeinen Sonderstatus für die Schweiz oder ähnliche Industrieländer zu schaffen.

swissinfo: Also keine Sondermitgliedschaft für die Schweiz, auch nicht in einer erweiterten Union? Der Begriff eines «Europas der unterschiedlichen Geschwindigkeiten» ist doch in aller Munde.

R.B.: Nein, eine Sondermitgliedschaft gibt es nicht. Selbst mit den zehn neuen Mitgliedstaaten wurde vor Verhandlungsbeginn festgelegt, dass es für sie keine opting-out gibt.

Denkbar ist lediglich, dass Mitgliedstaaten in einzelnen neuen Politikbereichen wie etwa der Sicherheitspolitik oder der Aussenpolitik auf eine Teilnahme verzichten könnten.

Eine Grund-Mitgliedschaft ist aber vorausgesetzt. Der Acquis communautaire, das bestehende Vertragswerk der EU, ist nicht verhandelbar.

Klar ist: Die Europäische Union nimmt unglaublich viel Rücksicht auf ihre Mitglieder. In dem Moment, in dem ein Land – gross oder klein, arm oder reich – gesagt hat: Ich will dabei sein, dann wird diesem Staat alles mögliche an Sonderkonditionen eingeräumt. Das würde mit Sicherheit für die Schweiz auch gelten. Aber man muss über diese eine Schwelle gehen.

swissinfo-Interview: Katrin Holenstein

Prof. Roland Bieber ist Direktor des Zentrums für vergleichendes und europäisches Recht an der Universität Lausanne.

Der gebürtige Deutsche war u.a. Professor an der Europa-Universität Florenz, Gastprofessor an der Universität North Carolina und von 1986 bis 1991 juristischer Berater des EU-Parlaments.

Bieber war Berater an der EU-Regierungskonferenz, die 1997 zum Vertrag von Amsterdam führte. Damals wurde erstmals festgelegt, dass EU-Staaten, die in der Integration schneller vorangehen wollen, in einzelnen Bereichen vertieft zusammenarbeiten können.

Bieber und seine Mitarbeiter beteiligten sich als einziges Uni-Institut der Schweiz mit einem Beitrag über «Kompetenzen und Institutionen im Rahmen einer EU-Verfassung» am EU-Reformkonvent.

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