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“Die Stadtbewohner sehen die ökologischen Bemühungen der Landwirtschaft nicht”

Portrait von Blaise Hofmann
An der Grenze zwischen Landwirtschaft und Urbanität erkundet Blaise Hofmann in seinem Buch "Faire Paysan" die Beziehungen zwischen zwei Welten, die sich nur schwer verstehen können. Vincent Guignet

Die von landwirtschaftlichen Kreisen heftig bekämpfte Initiative zur Biodiversität zeigt erneut die Kluft zwischen der Stadt- und der Landbevölkerung. Der Schriftsteller und Winzer Blaise Hofmann, Autor des Buchs "Faire Paysan", entschlüsselt die Beziehung zwischen zwei Welten, die nicht die gleiche Sprache sprechen.

Die Abstimmung über die Anti-Pestizid-Initiativen in der Schweiz im Jahr 2021 wurde von Vandalismus, Beleidigungen und Todesdrohungen überschattet.

Dem Waadtländer Schriftsteller und Winzer Blaise Hofmann ist diese Zeit nicht gut bekommen. Aus diesem Unbehagen heraus entstand sein Buch “Faire Paysan”, in dem er versucht, Stadt und Land in einen Dialog zu bringen.

Die Biodiversitätsinitiative, welche die öffentliche Hand dazu verpflichten will, der Natur mehr Raum und Mittel zu widmen, verärgert nun erneut einen Teil der Landwirtschaft.

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Die Bäuer:innen befürchten, dass die Vorlage die Produktion von Nahrungsmitteln stark einschränken wird. In den Ballungsräumen hingegen ist eine Mehrheit dafür, wie die erste Umfrage des Instituts gfs.bern gezeigt hat, die Mitte August veröffentlicht wurde.

Die Kampagne für die Abstimmung am 22. September hat jedoch friedlich begonnen. Blaise Hofmann ist der Ansicht, dass die Beziehungen zwischen Land und Stadt heute entspannter sind als noch vor drei Jahren, auch wenn weiterhin eine Spaltung besteht.

SWI swissinfo.ch: Sie haben die Kluft zwischen Stadt und Land überwunden: Sie sind der Sohn und Enkel eines Bauern, haben aber rund 15 Jahre in der Stadt gelebt, bevor Sie sich wieder auf dem Land niedergelassen haben, in der Nähe von Morges im Kanton Waadt. Wie haben Sie diese Veränderungen erlebt?

Blaise Hofmann: Ich werde immer eine bäuerliche Sensibilität haben. Man verliert sie nicht, wenn man auf einem Bauernhof aufgewachsen ist.

Ich habe immer noch Cousins, die Bauern sind. Ich bewirtschafte einen Hektar Weinberge. Ich war früher Schafzüchter. Ich habe viel über den ländlichen Raum geschrieben.

Die Verbindung zur Landwirtschaft ist also da, aber ich weiss, dass ich nicht mehr dazu gehöre, weil ich in der Stadt gelebt habe, weil ich an der Universität studiert habe, weil ich einen anderen Beruf ausübe.

Heute bin ich Schriftsteller und Winzer. Ich befinde mich somit auf halbem Weg zwischen der Stadt und dem landwirtschaftlichen Umfeld.

Ich habe festgestellt, dass mein Unbehagen in Wirklichkeit ein Reichtum ist. Meine Position ermöglicht es mir, als Brücke zwischen den beiden Welten zu fungieren.

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In Ihrem Buch “Faire Paysan” sprechen Sie von der Kluft zwischen Stadt und Land als dem “neuen Röstigraben”. Seit wann verstehen sich Land und Stadt in der Schweiz Ihrer Meinung nach nicht mehr?

Ich würde sagen, dass das Jahr 1996 ein Wendepunkt war. Die BSE-Krise tobte und führte zu einer Vertrauenskrise bei den Verbrauchern. Und im selben Jahr wurde auch eine grosse Bauerndemonstration in Bern von der Polizei niedergeschlagen.

Vor allem aber nahm das Volk in eidgenössischen Abstimmungen eine neue Agrarpolitik an, mit der das System der Direktzahlungen [Beiträge, die Landwirt:innen als Gegenleistung für im öffentlichen Interesse erbrachte Leistungen gezahlt werden] verankert wurde.

Die Bauern waren nun nicht mehr nur diejenigen, die die Bevölkerung ernähren, sondern auch diejenigen, die die Landschaft pflegen. Das bewirkte einen radikalen Wandel in der Wahrnehmung der Landwirtschaft.

Aus welchen Gründen?

Auf der einen Seite sagen sich Leute, die nicht vom Fach sind, dass sie es sind, die mit ihren Steuern die Landwirtschaft finanzieren. Auf der anderen Seite haben die Bauern das Gefühl, einen Teil ihrer Legitimität und ihrer Würde zu verlieren.

In ihrer Vorstellung haben sie diesen Beruf ergriffen, um die Bevölkerung zu ernähren und nicht, um Landschaftsgärtner zu sein. Dies führt zu Spannungen zwischen Landwirten und anderen.

Was unterscheidet die beiden Welten Ihrer Meinung nach?

Nur noch 2% der Bevölkerung arbeiten in der Landwirtschaft. Dadurch hat man die direkte Verbindung verloren. Man lebt in der Nähe von Landwirten, aber man weiss nicht unbedingt, wie ihr Beruf aussieht.

Das Ergebnis ist, dass die Stadtbewohner die Realität der Landwirte nicht verstehen und umgekehrt.

Man kann diese Entfremdung sogar in der Sprache feststellen. Der Bauer spricht zum Beispiel von “terroir” [Regionalität], der Städter von “circuit court” [kurze Wege], ein Begriff, der die Landwirte ärgert. Wir reden über das Gleiche, aber wir haben nicht die gleichen Codes.

Haben Sie nicht den Eindruck, dass diese Kluft in der Schweiz weniger ausgeprägt ist als in anderen Ländern, z. B. in den USA oder in Frankreich?

Seit ich 2021 mein Buch geschrieben habe, ist mir tatsächlich aufgefallen, dass diese beiden Welten in der Schweiz im Vergleich zu anderen Ländern immer noch sehr eng miteinander verbunden sind.

Hier sind die Städte so klein, dass jeder irgendeine Verbindung zum Land hat: Kindheitserinnerungen, Ferien, Bekannte oder Familienmitglieder, die Land bewirtschaften.

Seit der Pandemie hat es auch einen Wandel gegeben. Die Menschen versuchten, Dinge in ihrem Garten anzubauen, und sie entdeckten den Direktverkauf.

Mit dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine wurde auch die Frage nach der Ernährungssouveränität aufgeworfen. Es gibt nun auch junge Landwirte, die anders an ihren Beruf herangehen, besser kommunizieren können und ein besseres Bewusstsein für die biologische Vielfalt entwickelt haben.

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Sie haben viele Landwirt:innen getroffen, die sich bemühen, ihre Betriebe zu modernisieren und nachhaltiger zu gestalten. Wird das in der Stadt nicht genügend wahrgenommen?

Tatsächlich sehen die Städter nicht, welche Anstrengungen die Landwirtschaft im Hinblick auf die Ökologie unternimmt.

In den letzten 30 Jahren wurde eine ökologische Wende eingeleitet. Zwar ist der Wandel zu langsam, aber es wurden viele Schritte in Richtung mehr Nachhaltigkeit unternommen.

Immer mehr Pflanzenschutzmittel sind verboten oder werden sparsamer eingesetzt. Es gibt bereits Land, das ausschliesslich der Biodiversität gewidmet ist.

Viele Landwirte bewirtschaften einige ihrer Parzellen biologisch, ohne das Gütesiegel zu besitzen. Hecken werden neu gepflanzt, Agroforstwirtschaft wird entwickelt, bei der Bäume und Nutzpflanzen kombiniert werden, um den Boden besser zu schützen.

Allerdings müssen diese Umweltinitiativen den Menschen, die nicht vom Fach sind, erklärt werden. Die Landwirte könnten mehr kommunizieren und besser aufklären, und die Städter sollten neugieriger sein und nicht nur aufs Land fahren, um Sport zu treiben und ihre Ruhe zu haben.

Haben jene Landwirt:innen, die auf ihren Positionen beharren und sich nicht ändern wollen, noch eine Zukunft?

Diese Art von Landwirtschaft ist bereits im Verschwinden begriffen. Es gibt zwar Widerstände, aber die finden sich vor allem bei den älteren Generationen.

Wie in allen Berufsgruppen gibt es auch hier Menschen, die innovativ sind und gerne Risiken eingehen, und andere, die Veränderungen fürchten.

Man darf nicht vergessen, dass die Tradition bei der Landarbeit besonders stark ausgeprägt ist, da sie mit dem Respekt vor den Alten verbunden ist. Wenn man seine Praktiken ändert, kann das Gefühl entstehen, gegenüber den Vorfahren respektlos zu sein.

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Debatte
Gastgeber/Gastgeberin Pauline Turuban

Wie gross ist der Stadt-Land-Graben dort, wo Sie leben?

Stellen Sie in Ihrem Wohnland grosse Unterschiede in den Lebensstilen und im Abstimmungsverhalten zwischen Stadt- und Landbevölkerung fest?

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Editiert von Samuel Jaberg, aus dem Französischen übertragen von Marc Leutenegger

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