Die tunesische Jugend träumt von Europa
Nach dem Sturz des tunesischen Diktators Ben Ali sind Tausende Tunesier nach Lampedusa geflüchtet. Ein Tunesier, der in Genf lebt, hat dort junge Männer getroffen, die nach Frankreich gelangen wollen. Die Schweiz scheint kein bevorzugtes Ziel zu sein.
«Ich war sehr erstaunt», sagt Jalel Matri nach einem viertägigen Aufenthalt in Lampedusa, «ich habe erwartet, Leute in der totalen Misere zu finden, aber das ist nicht der Fall.» Das Mitglied der Vereinigung Tunesier in der Schweiz hat sich auf die kleine italienische Insel begeben, um Landsleute zu treffen, die aus ihrem Land fliehen, obwohl nun dort kein Diktator mehr herrscht.
In dem Salon «L’America», dem Billardclub des Quartiers Les Pâquis, den er in einen Treffpunkt der Gegner des Diktators verwandelt hat, erzählt uns der Aktivist, dass er bereits im Jahr 2009 nach Lampedusa gereist sei. Er hatte dort die grösste Mühe, mit den Immigranten zu sprechen, die in den Empfangszentren lebten. Dieses Mal war es anders.
«Wenn 5200 Tunesier in einem Dorf mit 6000 Personen auf die Strasse gehen, sieht man sie», erklärt er. «Ich konnte mich lange mit ihnen unterhalten, und sie haben mir ihre Geschichte erzählt. Die Mehrheit der Leute ist zwischen 18 bis 26 Jahre alt. Zwischen 60 bis 70 Prozent hatten eine Arbeit, hauptsächlich im Tourismus. Aber mit der Abnahme der Touristenströme, die auf die Revolution gefolgt ist, wurden sie arbeitslos aus technischen Gründen.
Andere sind Buschauffeure, Mechaniker oder Schreiner. Die meisten von ihnen haben Tunesien noch nie verlassen, weil sie noch nie ein Visum erhalten haben.
Aber zur Zeit können sie nach Europa gelangen ohne zu befürchten, dass die tunesische Polizei sie anhält. Sie sparen die 2000 Dinar (rund 1500 Schweizer Franken), die sie für die Reise brauchen, schliessen sich zusammen und kaufen ein Schiff. Dann fahren sie los.»
In Frankreich die Familie treffen
Jalel Matri bestätigt, dass fast alle aus dem Süden Tunesiens stammen, und dass er nicht einen einzigen Mann aus den unterprivilegierten Regionen getroffen hat, in denen die Revolution ihren Anfang nahm. Unter den ersten, die abgereist sind, befanden sich auch Ausbrecher aus den Gefängnissen und Polizisten von Ben Ali.
Ihr Traum ist, ihre Familie in Frankreich zu treffen. Die Wenigsten wollen in Italien bleiben, und noch weniger wollen in die Schweiz ziehen. «Viele Männer aus dem Süden Tunesiens sind vor Jahrzehnten nach Frankreich emigriert», erklärt Matri, «sie haben ihre Kinder im Land gelassen. Nun sind diese erwachsen und wollen ihre Eltern wiedersehen.»
Einige sind gekommen, weil sie von ihren Kollegen ermutigt wurden, andere, um die Herausforderung zu meistern, nach Europa zu gehen. «Sind eure Eltern auf dem Laufenden?», habe er sie gefragt, erzählt Jalel Matri. «Nein, sonst hätten sie uns niemals gehen lassen», sei die praktisch einhellige Antwort gewesen.
Die Überfahrt ist gefährlich. Sie dauert zwischen 24 bis 30 Stunden. «Ich habe einen Mann getroffen, dessen Bruder mit 22 anderen Menschen ertrunken ist.» Die meisten hätten gesagt, sie würden es nicht mehr wagen. «Ein junger Mann hat mir sogar gesagt, wenn man ihn zurückschaffe, ginge er wieder nach Hause zurück.»
Herzliche Einwohner, aber beunruhigt
Die jungen Menschen verbringen ihre Zeit auf den Terrassen der Bistrots, wo die Besitzer der Cafés angewiesen wurden, ihnen Kaffe zu servieren, aber keinen Alkohol. Sie spielen Fussball auf dem Vorplatz der Kirche, gehen auf den Schiffsfriedhof, um Dutzende von konfiszierten, aufgeschichteten Fähren zu betrachten, oder winken Neuankömmlingen zu, die häufig Freunde aus dem Quartier sind.
«Mit den Einwohnern hat es am Anfang ab und zu Probleme gegeben», sagt Jalel Matri, «aber im allgemeinen sind sie sehr gastfreundlich zu den Tunesiern, und diese sind ihnen dankbar.»
Die Italiener allerdings sind ein bisschen nervös. Am Mittwoch haben die Behörden und die Einwohner von Lampedusa Parlamentarier empfangen, damit sie helfen, eine Lösung zu finden. Sie befürchten Folgen für den Tourismus und ihre Familien. Es bräuchte nur eine Schlägerei, und die Situation könnte ausser Kontrolle geraten. Wenn keine Tunesier mehr kommen, befürchten die Einwohner laut Jalel Matri, dass Afrikaner, die aus Libyen fliehen, folgen werden.
Die Migranten gehen ihren eigenen Beschäftigungen nach. «Sie haben keine Identitätspapiere, sie können weder in einer Bank Geld abheben noch telefonieren. Sie fragten mich, ob ich ihnen Geld wechseln könne. Manche wollten 2000 Dinar auf einmal wechseln. Oder ob ich ihnen einen Chip für ihr Handy kaufe oder ob ich für sie ein Konto im Internet unterschreibe, damit sie Facebook beitreten könnten.»
Jalel Matri wird nachdenklich: «Ich frage mich, warum die tunesischen Behörden zulassen, dass sie das Land verlassen. Man weiss genau, wo sie einschiffen. Nimmt man es in Kauf, dass sich ganze Dörfer leeren? In Zarat, wo 5000 Einwohner lebten, sind 250 weggegangen.
In Mahres, wo 3000 Personen gelebt haben, haben 300 den Weg übers Meer genommen. Bestimmt hat es zur Zeit weniger Polizisten in Tunesien, aber die Nationalgarde und die Armee sind immer noch da. Wollen die Behörden mit dem Vorgehen zusätzliche Hilfe von Europa einfordern?
Ein kleiner Fleck:
Seit dem 10. Februar landen pro Tag drei oder vier Fischerboote aus Tunesien in Lampedusa.
Lampedusa ist ein kleiner Fleck im Mittelmeer, 200 km von Sizilien entfernt und nur 160 km vom tunesischen Festland.
Fähren: Zu Beginn der Ausreisen handelte es sich um grosse Fischerboote, geführt von Schleppern.
Zur Zeit handelt es sich um kleinere Schiffe von vier Metern Länge, die dreissig Personen aufnehmen können.
Männer: Das Gerücht zirkuliert, es handle sich um libysche Schiffe und damit um ein Mittel, die Revolution zu destabilisieren. Gemäss Jalel Matri stimmt das nicht.
Jeden Tag werden 200 Männer – Frauen sind keine dabei – auf den Kontinent gebracht, wo sie in zehn Empfangslagern untergebracht werden. Sie haben drei Monate Zeit, das Land wieder zu verlassen.
Frontex: Gemäss Jalel Matri befinden sich zur Zeit nur Tunesier in Lampedusa und einigewenige Ägypter. Frontex, die europäische Grenzwacht, wurde mobilisiert.
Sie wurde im Jahr 2005 geschaffen und mit einem Budget von 80 Millionen Euro dotiert.
Dennoch verfügt sie über keine eigenen Mittel, und die Überwachung der Grenzen bleibt den einzelnen Staaten überlassen.
(Übertragung aus dem Französischen von Eveline Kobler)
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