Die Zukunft beginnt in der Vergangenheit
Gewaltkonflikte und Diktaturen hinterlassen immer schwere Menschenrechtsverletzungen. Beim gesellschaftlichen Wiederaufbau ist die Vergangenheitsarbeit zentral. Die Schweiz engagiert sich dabei auf internationaler Ebene. Nepal ist ein Beispiel.
Kein Festschreiben mehr von Amnestien für die Täter, dafür mehr Beachtung der Opfer in Friedensverträgen, forderte Bundesrätin Micheline Calmy-Rey an der Jahreskonferenz des Eidg. Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA), die jüngst in Bern stattfand.
Im gleichen Sinne äusserten sich dabei auch die UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte, Navanethem Pillay, sowie Richard Goldstone, Verfasser des UNO-Berichtes zum Gaza-Krieg.
Trotz Friedensabkommen können Konflikte immer wieder von neuem aufbrechen. Zu den Ursachen gehört vielfach eine fehlende Auseinandersetzung mit den Wurzeln und den Wunden des Konflikts. Der Schweizer Einsatz für die Vergangenheitsarbeit soll deshalb vor allem auch ein Beitrag zur Konfliktprävention sein.
Das Beispiel Nepal
In Nepal sei die Vergangenheitsarbeit immer noch eine grosse Herausforderung, sagte Markus Heiniger gegenüber swissinfo.ch. Er arbeitet für das EDA in dem südasiatischen Land. Dabei geht es um Begleitung bei der Umsetzung der Friedensabkommen.
«Wir bieten unsere guten Dienste für schwierige Situationen zwischen den Hauptparteien und in der Beratung für die Verfassungsgebung an. Nepal ist sehr interessiert an anderen Beispielen und an Fragen der Vergangenheitsbewältigung: Wie gehen wir um mit den Verbrechen aus der Bürgerkriegszeit.»
Die Opfer des Bürgerkrieges
Der 10-jährige Bürgerkrieg in Nepal forderte rund 16’000 Todesopfer. «Es gibt die Opfer, einerseits des Staates, der Armee, aber auch der maoistischen Widerstandskämpfer. Wir versuchen, einzelne Fälle aufzuarbeiten, den Opfern rechtlich zu helfen.»
Heiniger nennt ein Beispiel: «Ein 15-jähriges Mädchen wurde gefoltert und vermutlich von der Armee umgebracht. Ein anderer Fall betrifft die Maoisten: Sie sprengten einen Bus in die Luft, wobei es 30 Tote gab.» Es gehe also erstens um Fakten und Zahlen, dann versuche man den Opfern zu helfen, Fälle vor Gericht zu bringen.
«Das ist aber relativ schwierig. Denn die Haupttäter, die Hauptverantwortlichen sind heute ‹geachtete Politiker›, die gleichzeitig auch den Friedensprozess umsetzen müssen. Sie sind diejenigen, welche die Friedensabkommen unterzeichnet haben.»
Verschwundenen- und Wahrheitskommission
Die Friedensabkommen in Nepal sehen zwei wichtige Kommissionen vor: Eine Kommission für die rund 1000 Verschwundenen, die vermutlich tot sind, von denen man aber nichts Genaues weiss, sowie eine Wahrheitskommission.
«Wir wie auch andere externe Akteure beraten die Behörden bei der Schaffung dieser Kommissionen. Mit einbezogen in Fragen der Kompetenzen der Kommissionen wird auch die Zivilgesellschaft», so Heiniger.
Erfolge trotz Schwierigkeiten
Die Vergangenheits- und Aussöhnungsarbeit in Nepal ist nicht einfach, weil die politischen Akteure auf beiden Seiten immer noch die gleichen sind wie im Bürgerkrieg. Dennoch spricht EDA-Mitarbeiter Heiniger von Erfolgen.
«Man nimmt bei der Unterzeichnung eines Friedensabkommens allgemein an, die Sache sei gelaufen. Aber wir wissen aus unserer eigenen Geschichte, dass die Umsetzung eines Abkommens viel schwieriger ist, als man denkt. Nun müssen dieselben Leute das Abkommen umsetzen, die teilweise die Täter sind.»
Aber gleichzeitig gebe es auch eine starke Zivilgesellschaft, Druck von aussen. «Wir haben jetzt gerade einen Fall eines Generals, der nicht befördert wurde, weil es genügend Druck und Einsicht gab, dass man nicht alle Leute weiterhin im Staatsapparat behalten kann. Ein kleines Erfolgserlebnis.»
Geduld ist gefragt
In Nepal hat man sich relativ schnell entschieden, Wahlen für eine verfassungsgebende Versammlung durchzuführen, für eine neue Verfassung, für ein neues demokratisches Nepal.
«Nun arbeiten sie an der Verfassung. Es ist nicht einfach, während der gleichen Zeit eine starke Wahrheitskommission zu schaffen – mit denselben Leuten. Dadurch würde die Verfassungsgebung schwer gestört», erklärte Heiniger. «Wir müssen Geduld haben und diesem Prozess Zeit lassen.»
Man müsse schauen, wie die grossen Fische für die grossen Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden könnten. Kleinere Verbrechen werde man mit «weicheren Methoden» sanktionieren.
Keine absolute Garantie der Nichtwiederholung
Die Schweiz hat ein Rahmenkonzept für die Vergangenheitsarbeit entwickelt. Neben dem Recht auf Wahrheit, auf Gerechtigkeit und auf Wiedergutmachung geht es auch um die Garantie der Nichtwiederholung des geschehenen Unrechts.
Dazu Markus Heiniger: «Es wird nicht eine solche absolute Garantie geben, da sind wir uns alle einig. Wir können auch in die europäische Geschichte zurückschauen, es gab immer wieder neue Entwicklungen. Die Geschichte hat nie ein Ende.»
Jean-Michel Berthoud, swissinfo.ch
Vergangenheitsarbeit beinhaltet Massnahmen wie Tatsachenermittlung, Gewährleistung der Rechtsprechung, Wiedergutmachung und institutionelle Reformen.
Grundlage für diese Massnahmen sind die 1997 von der UNO-Menschenrechtskommission verabschiedeten Joinet-Grundsätze zur Bekämpfung der Straflosigkeit. Diese definieren die Rechte der Opfer und die Pflichten der Staaten.
Wahrheitskommissionen, innerstaatliche Gerichte, Sondergerichtshöfe und internationale Gerichte (wie etwa der Internationale Strafgerichtshof) spielen ebenso eine zentrale Rolle wie Programme zur Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer sowie institutionelle Reformen und Massnahmen zur Überprüfung der Mitglieder von Institutionen.
Wichtig sind auch Massnahmen mit starkem Symbolgehalt wie öffentliche Entschuldigungen und Denkmäler zum Gedenken an die Opfer und Widerstandskämpfer.
Es gibt zwar kein Standardmodell für die Vergangenheitsarbeit, doch hat die Schweiz erheblich zur Erarbeitung eines konzeptuellen Rahmens für diesen Bereich beigetragen.
Die Grundlage für diesen Ansatz bilden die so genannten Joinet-Grundsatzprinzipien mit ihren vier Schlüsselbereichen zur Bekämpfung der Straflosigkeit: Recht auf Wahrheit, Recht auf Gerechtigkeit, Recht auf Wiedergutmachung und Garantie der Nichtwiederholung.
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