«Eine geopferte Generation»
Für die jungen und gut gebildeten Menschen, die in arabischen Ländern für Arbeit und Demokratie auf die Strasse gehen, sieht Soziologe Franz Schultheis kaum Hoffnung auf Besserung. Reformen, so sie denn kommen, würden erst nach Jahrzehnten greifen.
Erst eine Modernisierung der Wirtschaft mittels einer Industrialisierung könnte die Zeitbombe Jugendarbeitslosigkeit entschärfen, sagt der an der Universität St. Gallen lehrende Schultheis im Gespräch mit swissinfo.ch.
swissinfo.ch: Was könnten Szenarien sein, wenn diese Zeitbombe verbreitet explodiert?
Franz Schultheis: Sie ist teils schon losgegangen. Junge Menschen sind in den nordafrikanischen Ländern auf der Strasse und demonstrieren für die Ablösung der Regimes.
Dabei kommt eine grosse aufgestaute Frustration zum Ausdruck, weil die junge Generation von grosser Perspektiv- und Zukunftslosigkeit betroffen ist.
Die Jungen können dank relativ moderner Bildungssysteme ein sehr hohes Bildungsniveau erreichen, gemäss dem Motto ‹Erwerbt Diplome, und ihr werdet euren Weg machen›.
Sie müssen dann aber feststellen, dass die Versprechungen Verheissungen ohne Wert sind. Die Diplome sind wie ungedeckte Checks, die sie auf dem Arbeitsmarkt nicht gegen eine adäquate Stelle umtauschen können.
swissinfo.ch: Was sind die Gründe für diese «Bildungsproduktion ohne Absatzmarkt»?
F.S.: Diese Frage wird auch in Europa diskutiert, wobei die Schweiz eine Sonderrolle einnimmt, weil sie das niedrigste Niveau an Abiturienten, Hochschulabgängern und Akademikern in Europa aufweist. Ihre These, lieber nicht zu viele Akademiker zu produzieren, die dann arbeitslos werden, scheint sich angesichts der Verhältnissen in Nordafrika zu bestätigen.
Aber die dortigen Verhältnisse sind komplett verschieden: Die nordafrikanischen Staaten haben sich nach Ende des Kolonialismus bei der Entwicklung der Bildungssysteme an Frankreich orientiert, wonach das Abitur erklärtes Ziel eines grossen Anteils jeder Altersgruppe ist.
Das formale Bildungssystem wurde zwar so für die breiten Massen zugänglich. Die Länder haben für die Uni-Absolventen aber keinen Arbeitsmarkt hervorgebracht.
Dafür sind auch die Strukturen von Wirtschaft und Gesellschaft verantwortlich: Die Regierungen haben ihre beträchtlichen Einkünfte aus Erdgas (Algerien) oder Tourismus (Tunesien) stark in die Bildung investiert, was als solches durchaus positiv ist. Für qualifizierte Arbeitskräfte mit Hochschulabschluss ist die Nachfrage auch deshalb ungenügend, weil die Wirtschaftsstrukturen weit hinter den Strukturen der Bildungssysteme zurückgeblieben sind.
Es gibt kein effizientes duales System, in dem parallel zur formalen Bildung eine organisierte Lehre den Weg in die berufliche Praxis ebnet. So entstand ein akademisches Proletariat aus Menschen mit hohen Bildungstiteln, die in hochprekären Verhältnissen leben.
swissinfo.ch: Wie rasch können für die jungen Menschen Arbeit und Einkommensmöglichkeiten geschaffen werden?
F.S.: Reformen lassen sich nicht per Regierungsdekret herbeiführen, sondern werden Jahrzehnte in Anspruch nehmen.
Vor dem Hintergrund der postkolonialen Konfiguration – diese Länder leiden immer noch an den Symptomen einer Entwurzelung aus ihren traditionellen Ökonomien und Gesellschaften – wäre ein Zweckoptimismus nach dem Motto ‹Jetzt wechseln wir die Regierung, und die wird alles ändern›, vollkommen fehl am Platz.
Vielleicht ist die jetzige, geprellte Generation auch eine geopferte Generation. Menschen, die jetzt für gerechte Lebenschancen protestieren, werden zum grössten Teil die Umsetzung solcher Reformen nicht mehr erleben.
Die wirtschaftlichen Bedingungen müssen verbessert werden, in erster Linie über eine Industrialisierung der Länder. Bodenschätze, über die sie verfügen, müssen vor Ort veredelt statt exportiert werden.
In Algerien treiben chinesische Arbeiter den Städtebau voran, dafür kann China die Bodenschätze einführen, die es dringend benötigt. Die wirtschaftlichen Strukturen in Algerien werden so aber nicht modernisiert, weil die Einkünfte grösstenteils in Bildung und Armee fliessen.
swissinfo.ch: Welche Rolle sollten demokratische Staaten wie die Schweiz in der gegenwärtigen Situation spielen?
F.S.: Sie müssen den zivilgesellschaftlichen Kräften, die in Algerien, Tunesien und jetzt auch in Ägypten nach gesellschaftlichen Veränderungen und Demokratie rufen, die volle Unterstützung bieten. Das umfasst Regierungserklärungen, aber auch logistische Unterstützung oder die Nutzung neuer Medien.
Es müssten aber vor allem die Investitionen in die Entwicklungshilfe, die bisher eher halbherzig erfolgten, ungleich erhöht werden; nur schon, um die Migrationsbewegungen von Süd nach Nord etwas zu dämmen. Den Menschen sollen Mittel direkt im eigenen Lebensraum zur Verfügung gestellt werden, in Form von Hilfen zum wirtschaftlichen Aufbau und der Entwicklung des Arbeitsmarktes.
swissinfo.ch: Besteht in Tunesien oder Ägypten oder anderen Ländern Gefahr, dass die junge Generation aufgrund dieser No-Future-Perspektiven in den religiösen Fundamentalismus abgleitet?
F.S.: Diese Gefahr ist realistisch, denn grosse gesellschaftliche Enttäuschungen gehen immer mit Ressentiments einher. Wo die Regierung politische Versprechen nicht hält, sucht man sein Heil woanders. Und wo die Menschen keine Hoffnung mehr haben, ist das Schlimmste zu befürchten.
Viele islamische Gesellschaften weisen fundamentalistische Tendenzen auf. Islamistische Bewegungen können als Auffangbecken starken Zulauf haben, weil sich dort die Enttäuschung junger Menschen in eine bestimmte Form giessen lässt. Innere Zerrissenheit hat in Algerien in den letzten 15 Jahren zu einem Bürgerkrieg mit mehr als 100’000 Toten geführt.
swissinfo.ch: Sie sagen, die postkolonialen Strukturen ziehen sich bis nach Europa, in die Banlieues von Frankreich oder Städte in Holland. Sehen Sie die Gefahr eines Übergriffs der Unruhen auf Europa?
F.S.: Nicht auf direkte, mechanische Art und Weise. In den Banlieues haben wir aber schon seit längerer Zeit Unmutsbewegungen, die Frustration ausdrücken, wie es die Brüder und Schwestern jetzt in Nordafrika tun.
Die postkoloniale Konfiguration hat ein doppeltes Gesicht: Sie besteht einerseits in den prekären Lebenssituationen der Menschen, die der Kolonialismus in ihren Heimatländern entwurzelt zurückgelassen hat.
Bei uns ist sie andererseits durch die Migranten importiert; sie leben in unwirtlichen und prekären Verhältnissen mit einer Jugendarbeitslosigkeit von teils über 50%.
Vor ein paar Jahren brannten in Pariser Banlieues pro Nacht rund 400 Autos, junge Menschen setzten Schulen in Brand, in denen ihre Geschwister unterrichtet wurden, und sie fackelten Busse ab, mit denen ihre Mütter zum Markt fuhren. Das zeigt, wie aufgestaute Frustration zu Aggression und Gewaltausbrüchen führt. Wird es selbstzerstörerisch, handelt es sich um die sublimste Form der Ohnmacht.
Tunesien
Junge unter 25 Jahren: 42%
Anteil Studierende: 35,2%
Arbeitslose Gruppe 15-29 J.: 31,2%
Algerien
Junge unter 25 Jahren: 47%
Anteil Studierende: 31%
Arbeitslose Gruppe 15-29 J.: 21,5%
Marokko
Junge unter 25 Jahren: 48%
Anteil Studierende: 11,5%
Arbeitslose Gruppe 15-29 J.: 17,6%
Ägypten
Junge unter 25 Jahren: 52%
Anteil Studierende: 28%
Arbeitslose Gruppe 15-29 J.: 17%
Jordanien
Junge unter 25 Jahren: 54%
Anteil Studierende: 36%
Arbeitslose Gruppe 15-29 J.: –
Syrien
Junge unter 25 Jahren: 55%
Anteil Studierende: 21,7%
Arbeitslose Gruppe 15-29 J.: 19,3%
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