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Geht im Bilateralismus die Übersicht verloren?

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Im Februar 2009 stimmt die Schweiz ein weiteres Mal über die Personenfreizügigkeit ab, was über die Zukunft der Bilateralen insgesamt entscheidet. Die bilateralen Beziehungen zur EU entwickeln sich ständig, doch das Regelwerk hinkt nach, sagt Jacques de Watteville.

Geografisch befindet sich die Schweiz zwar mitten in Europa, doch institutionell liegt sie ausserhalb. Vor allem wegen dem Anspruch auf direkte Demokratie und nationale Souveränität lehnt eine Mehrheit der Bürger eine EU-Vollmitgliedschaft ab.

Die Schweiz regelt die Beziehungen mit der EU in rund 120 bilateralen Abkommen.

Wirtschaftlich ist die Schweiz gut integriert. Mit den EU-Staaten wickelt sie pro Arbeitstag ein Handelsvolumen von über einer Milliarde Franken ab. 2007 war sie der viertwichtigste Handelspartner und drittwichtigste Investor in der EU. 82% von unseren Importen kommen aus der EU und 63% von unseren Exporten fliessen in die EU.

Deshalb ist die Schweiz als Kleinstaat von der EU und ihren Märkten abhängig. Wirtschaft, Politik und die gegenseitigen Beziehungen entwickeln sich jedoch dynamisch, während die 120 Abkommen statisch wirken.

Laut Jacques de Watteville, Chef der Schweizerischen Mission in Brüssel, wird es immer schwieriger, die Übersicht und Kohärenz zu wahren. Es wird auch schwieriger, über neue Abkommen zu verhandeln.

swissinfo: Die Schweiz hat sich gegen eine EU-Mitgliedschaft entschieden und statische, bilaterale Abkommen abgeschlossen, während das EU-Recht sich ständig entwickelt. Kann man es dennoch dabei bewenden lassen?

Jacques de Watteville: Wenn wir nichts unternehmen, hat auch das Folgen: Es entstehen Abweichungen zwischen schweizerischem und EU-Recht. Dies beeinflusst den Zugang schweizerischer Unternehmen zum europäischen Markt, was zu ihrer Schlechterbehandlung führen könnte.

Es kann auch zu Diskriminierung von EU-Unternehmen in der Schweiz kommen, was Brüssel kaum freut. Dies hätte möglicherweise Massnahmen wie die Kündigung von Abkommen zur Folge. Nichtstun könnte deshalb zum Nachteil gereichen.

swissinfo: Kann die Schweiz einfach die Regeln der EU übernehmen?

J.d.W.: Das ist eine Möglichkeit. In diesem Fall passen wir uns einseitig an, und «vollziehen autonom nach». Damit haben wir keinen Einfluss auf neue Regelungen, und auch an DER Gegenseitigkeit fehlt es. Diese Lösung ist also ebenfalls nicht ganz unproblematisch.

Eine dritte Variante schliesslich besteht aus der regelmässigen Anpassung durch Verhandlungen oder dem Aushandeln von Neuabkommen. Dies setzt voraus, dass auch die EU bereit ist mitzumachen. Und das mag nicht immer der Fall sein.

Verhandeln wir mit der EU, hat auch sie Wünsche und Fragen, auf welche die Schweiz eintreten muss. Es stimmt also, die Situation bei den Bilateralen ist nicht immer einfach.

swissinfo: Liesse sich die Dynamik der Bilateralen nicht mit detaillierten Vertragsklauseln regeln?

J.d.W.: Ja, indem man Klauseln in die Abkommen einbaut, welche Anpassungen erleichtern. Damit lässt sich das Risiko der unterschiedlichen Entwicklung in der EU und in der Schweiz reduzieren.

Das entspräche dann einer Mischung zwischen ‹Decision Shaping›, also der Mitwirkung an der Entwicklung neuer EU-Regeln, und der Übernahme von neuem EU-Recht.

Daran arbeiten wir zur Zeit, aber einfach ist es nicht. Die EU setzt Druck auf, damit neues Gemeinschaftsrecht ziemlich automatisch übernommen wird.

Hingegen ist es für uns sehr wichtig, dass unsere nationalen Spielregeln, wie die Möglichkeit zu Referenden und unsere Souveränität, respektiert bleiben.

swissinfo: Ist es denkbar, dass in einigen Jahren das bilaterale Abkommensgeflecht Schweiz-EU derart kompliziert wird, dass sich von neuem die Frage stellt, ob nicht ein Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum EWR doch die bessere Lösung wäre?

J.d.W.: Wie die bilaterale Situation in zehn Jahren ausschaut, weiss ich nicht. Im Moment bietet sie weiterhin interessante Perspektiven. Im EWR-Land Island gibt es in der Folge der Finanzkrise Bemühungen zum vollen EU-Beitritt. Tritt das ein, ist die Zukunft des EWR in Frage gestellt.

Und darüber hinaus dürfte sich das andere EWR-Land, Norwegen, eine EU-Vollmitgliedschaft ebenfalls überlegen. Und dann gibt es gar keinen EWR mehr!

Die Option eines EWR-Beitritts für die Schweiz würde sich damit erübrigen.

swissinfo: Wird es jetzt in der Schweiz jedesmal, wenn die EU ein neues Mitglied aufnimmt, zu neuen Abstimmungen in der Schweiz kommen?

J.d.W.: Vielleicht gibt es noch viel mehr Referenden bezüglich der Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU. Diese beziehen sich ja nicht nur auf die Erweiterung und auf Neumitglieder.

Sie können sich auch auf technische Fragen beziehen, wie den biometrischen Pass zum Beispiel.

swissinfo: Über diese Fragen hinaus gesehen, wo liegen im Moment Ihre Prioritäten?

J.d.W.: Wir müssen das Referendum vom 8. Februar 2009 über die Weiterführung des freien Personenverkehrs mit der EU unbedingt gewinnen, sonst würden alle Abkommen der Bilateralen I automatisch hinfällig. Möglicherweise würden auch weitere Abkommen hinfällig, womit der ganze bilaterale Weg in Frage gestellt wäre. Dies würde der Wirtschaft viel Schaden zufügen.

swissinfo, Alexander Künzle

Der Wirtschaftsexperte de Watteville ist Leiter der Schweizer Mission bei der Europäischen Union in Brüssel.

Der 57-Jährige war bereits Ende der 80er bis Anfang der 90er-Jahre als Vertreter des Aussenministeriums in Brüssel.

Als Experte war er damals dabei, als Bern und Brüssel um den eventuellen Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum EWR verhandelten.

Auch die Angriffe der OECD sind ihm aus seiner Zeit als Chef des Finanz- und Wirtschaftsdiensts des Aussenministeriums geläufig (1997 BIS 2003), als diese Organisation die Schweiz wegen «schädlicher Steuerpraktiken» auf eine Schwarze Liste zu setzen drohte.

Die Staaten der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) haben 1972 mit der (damaligen) Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWG ein Freihandelsabkommen abgeschlossen.

Die damaligen EFTA-Staaten haben sich inzwischen der EU angeschlossen oder traten dem Europäischen Wirtschaftsraum EWR bei – ausser die Schweiz.

Diese steht der EU faktisch allein gegenüber.

1999 wurde ein erstes Paket von 7 Abkommen zwischen der Schweiz und der EU geschlossen («Bilaterale I»).

2004 folgten 9 weitere Abkommen («Bilaterale II»).

Diese Bilateralen helfen, die negativen wirtschaftlichen Folgen des EWR-Abseitsstehens der Schweiz zu neutralisieren.

Doch sind die Bilateralen bisher statisch strukturiert, das ständige Anpassen ist aufwändig und komplex.

Heute verhandelt die Schweiz auch über eine ganze Reihe von neuen Themen, die bestehende Abkommen weiterentwickeln.

Neben den Bilateralen beteiligt sich die Schweiz an verschiedenen Programmen und Sonderagenturen der EU, und an zivilen und militärischen Operationen der EU im Ausland.

Die Übersicht über all diese Beziehungen, die Koordination und die Kohärenz der verschiedenen Dossiers wird dabei immer schwieriger.

Zur Vereinfachung und Optimierung der Verteidigung der schweizerischen Interessen wird deshalb ein «Rahmenübereinkommen» zwischen der Schweiz und der EU ins Auge gefasst.

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