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«Gerichtshof droht am eigenen Erfolg zu scheitern»

Heillos überlastet: Der europäische Menschenrechts-Gerichtshof in Strassburg. Reuters

Die Schweiz übernimmt am 18. November den Vorsitz im Europarat. Oberste Priorität hat für sie die Sicherung des Menschenrechts-Gerichtshofs sowie die Stärkung der Demokratie, wie Paul Widmer, Schweizer Botschafter in Strassburg, im Interview erläutert.

swissinfo.ch: Die Schweiz übernimmt für sechs Monate das Zepter im Europarat. Was bedeutet diese Präsidentschaft für die Schweiz?

Paul Widmer: Für uns bedeutet dies schon etwas, denn die Schweiz hat ja nicht gerade häufig eine Führungsfunktion in internationalen Organisationen.

Die Schweiz wird in diesen sechs Monaten einerseits ausführen, was eine Mehrheit der Mitgliedstaaten will.

Auf der anderen Seite möchte jeder Staat während seiner Präsidentschaft Akzente setzen. So auch die Schweiz.

swissinfo.ch: Welche Akzente sind dies?

P.W.: Wir haben uns drei Ziele vorgenommen. Erstens wollen wir die Zukunft des Gerichtshofs für Menschenrechte sichern.

Zweitens die Demokratie in Europa vertiefen. Dazu veranstaltet die Schweiz zusammen mit der Universität St. Gallen und der Venedig-Kommission (Vereinigung von Verfassungsrechtlern, Anm. d. Red.) im nächsten Frühjahr eine Konferenz unter dem Titel «Demokratie und Dezentralisierung» mit Teilnehmern aus ganz Europa

Und drittens wollen wir Reformen innerhalb des Europarats einleiten.

swissinfo.ch: Höchste Priorität hat die Reorganisation des Menschenrechts-Gerichtshofs, der kurz vor dem Kollaps steht. Wie kann er entlastet werden?

P.W.: Der Gerichtshof droht, an seinem eigenen Erfolg zu scheitern. Die Beschwerden in Strassburg haben in den letzten Jahren massiv zugenommen. Zur Zeit lagern beim Gericht 115’000 unerledigte Eingaben.

Um dieses Problem anzugehen, lädt der Bundesrat am 18./19. Februar zu einer Konferenz auf hoher Ebene in Interlaken ein.

swissinfo.ch: Was ist von dieser Konferenz konkret zu erwarten?

P.W.: Wir möchten erreichen, dass alle Staaten ein feierliches Bekenntnis zum Europäischen Gerichtshof abgeben.

Im weiteren erachten wir es als nötig, Massnahmen zu ergreifen, um die Beschwerdeflut zumindest einzudämmen.

Zudem soll in Interlaken der Startschuss für Vorschläge, die etwa in sieben bis acht Jahren zum Tragen kommen und die Zukunft des Gerichts sichern sollen.

Was wir sicher nicht möchten, ist, die Individualbeschwerde beschränken, denn sie ist eine grosse Errungenschaft in Europa. Bürgerinnen und Bürger sollen weiterhin an dieses Gericht gelangen können.

swissinfo.ch: Muss der Gerichtshof effizienter werden und künftig zwischen schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen und weniger schwerwiegenden unterscheiden?

P.W.: Sicher muss man Mittel finden, um die Menge der Beschwerden rascher abzuarbeiten. Ein Vorschlag ist, dass repetitive Fälle, also Fälle, die immer wieder gleicher Natur sind, nur noch von drei statt sieben Richtern behandelt werden.

swissinfo.ch: Können Sie einen Fall von schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen nennen?

P.W.: Schwerwiegende Fälle müssen nicht in der Natur schwerwiegend sein, sondern ein Problem darlegen, für das es noch nicht unbedingt Vorgaben gibt.

Als Beispiel können wir jenen Fall aus Italien nehmen, von dem jetzt alle sprechen: Dass Kruzifixe nicht mehr in Schulzimmern hängen dürfen.

So etwas ist nicht nach einem Schema F zu erledigen, sondern muss von einem grossen Richtergremium behandelt werden.

swissinfo.ch: Die Zahl der Beschwerden hat also massiv zugenommen. Heisst das, dass die Menschenrechte in Europa immer mehr mit Füssen getreten werden?

P.W.: Nein. Man darf sagen, dass es in Europa enorme Fortschritte gegeben hat und noch gibt. Wenn es immer mehr Fälle gibt, hat das mit der Erweiterung des Europarats zu tun, insbesondere nach dem Fall der Mauer. Jetzt sind wir 47 Staaten.

Darunter sind Staaten, die sich innert kürzester Zeit ein ganz neues Rechtssystem aneignen mussten – übrigens ein grosser Erfolg des Europarats.

60% aller Gerichtsfälle kommen aus vier Staaten: Russland, der Türkei, der Ukraine und Rumänien.

Ein weiterer Grund für die Überlastung ist, dass der Europarat immer bekannter wird. Heute gelangen Leute ans Gericht, die vor ein paar Jahren noch gar nicht gewusst haben, dass es ein solches gibt.

swissinfo.ch: Hat die Schweiz mit ihrer humanitären Tradition und ihrer Menschenrechtspolitik Vorbildcharakter im Europarat, oder gibt es auch in der Schweiz Mängel zu beanstanden?

P.W.: Die Schweiz ist zu Recht stolz auf ihr Staatswesen. Und das wird international auch anerkannt.

Aber auch wir machen Fehler. Es gibt immer wieder Rechtsfälle, in denen die Schweiz gemahnt wird.

Aufgrund solcher Urteile muss die Schweiz beispielsweise Personen entschädigen oder gesetzliche Änderungen vornehmen, damit sich solche Fälle in Zukunft nicht wiederholen.

Aber es sind relativ wenige Fälle. In den letzten 10 Jahren gab es im Durchschnitt 200 Fälle aus der Schweiz. Die allermeisten wurden als unbegründet abgewiesen. Letztes Jahr gab es vier Fälle, in denen die Schweiz nicht Recht bekam.

swissinfo.ch: 42 der 47 Europaratsmitglieder sind der Europäischen Sozialcharta, einer Garantie für soziale Rechte, beigetreten. Nicht so die Schweiz. Wieso dieses Zaudern?

P.W.: Im Europarat gibt es gut 200 Konventionen mit Rechtscharakter. Die Schweiz hat deren 109 ratifiziert. Das liegt im guten Durchschnitt.

Das Schweizer Parlament hat die Sozialcharta abgelehnt, und auch Kantone haben Vorbehalte angemeldet. Das hat auch damit zu tun, dass wir etwas erst ratifizieren, wenn wir sicher sein können, es auch so gut als möglich einhalten zu können.

Gaby Ochsenbein, swissinfo.ch

Die Schweiz übernimmt am 18. 11. 2009 bis 11. 5. 2010 turnusgemäss den Vorsitz im Ministerkomitee, dem Exekutivorgan des Europarates.

Sie trat dem Europarat am 6. Mai 1963 als 17. Mitgliedstaat bei.

Seit 1968 verfügt sie über eine ständige Vertretung in Strassburg. Gegenwärtiger Botschafter ist Paul Widmer.

Die Schweiz bezahlt pro Jahr 2,1750% des Budgets des Europarats, das sind 6,2 Mio. Euro.


Die Schweizer Delegation in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats besteht aus 12 National- und Ständeräten.

Schweizer Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist Giorgio Malinverni.

Am 18. Und 19. Februar 2010 findet in Interlaken eine Ministerkonferenz zur Reform des überlasteten Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) statt. Präsidiert wird sie von Aussenministerin Micheline Calmy-Rey und Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf.

Täglich beklagen sich rund 1400 Personen in Briefen, Faxen und E-Mails beim EGMR. 50’000 Fälle münden jährlich in Klagen. Vor 10 Jahren waren es noch 5000 pro Jahr gewesen. Die 47 Richter können die Flut nicht mehr bewältigen. 115’000 Fälle sind zur Zeit hängig.

Er wurde 1949 von 10 westeuropäischen Ländern (Belgien, Dänemark, Frankreich, Grossbritannien, Irland, Italien, Luxemburg, Norwegen, Schweden, Niederlande) als zwischenstaatliche Organisation zum Schutz der Menschenrechte gegründet.

Mit den Jahren entstand ein europäischer Rechtsraum, eine paneuropäische Plattform.

Der ständige Sitz ist in Strassburg, Frankreich. Der Palais de l’Europe wurde 1977 eingeweiht.

Heute zählt der Rat über 636 Abgeordnete aus 47 Mitgliedstaaten mit insgesamt 800 Millionen Menschen. Dazu kommen rund 2000 administrative Mitarbeiter. Alle europäischen Staaten sind dabei, ausser der Vatikan, Weissrussland und Kosovo. Hinzu kommen fünf Beobachterstaaten (Vatikan, USA, Kanada, Japan, Mexiko).

1950 wurde die Europäische Menschenrechts-Konvention verabschiedet, die seither durch 14 Zusatzprotokolle ergänzt wurde.

Der Europäische Menschenrechts-Gerichtshof soll sicherstellen, dass die Menschrechte in den Mitgliedstaaten eingehalten werden.

Der Europarat hat bislang rund 200 Konventionen verabschiedet, so etwa zur Verbesserung der internationalen Rechtshilfe, zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens, der Abschaffung der Todesstrafe, des Menschenhandels oder der Folter.

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