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«Lasst die Trabis und Wartburgs zu Hause!»

Reuters

Walter Momper wusste, dass die Mauer bröckelt. Dass sie fällt und wann sie fällt, wusste der damalige regierende Bürgermeister Berlins aber nicht. Jüngst zu Gast in Bern, schilderte der Zeitzeuge die Nacht vom 9. November 1989.

Diese Nacht schrieb Weltgeschichte – sie riss den Eisernen Vorhang zwischen Ost und West nieder.

Die Bürger Ostberlins schrieben Weltgeschichte – sie schritten mit einem Lachen durch die Mauer und versetzten der DDR den Todesstoss.

Günter Schabowksi schrieb Weltgeschichte – der Parteifunktionär verlas den richtigen Zettel, interpretierte ihn aber falsch.

Weltgeschichte steht nicht nur auf Zetteln, sondern passiert auch. So könnte ein Fazit aus Walter Mompers fesselndem Bericht lauten, in dem er die Ereignisse vom 9. November schilderte.

Der Vortrag des Zeitzeugen, der mittendrin stand statt nur dabei, war die Eröffnung der Veranstaltungsreihe «Das Ende der alten Ordnung», die von der Schweizerischen Osteuropabibliothek und dem Forum Käfigturm des Bundes organisiert wird.

Die Ankündigung

» Am 29. Oktober sagte uns Günter Schabowski, die Nummer 2 der neuen DDR-Führung, am Ende einer Sitzung, dass die DDR ihren Bürgern noch vor Weihnachten Reisefreiheit gewähren werde.

Ich habe mir dann überlegt, was das für Westberlin bedeutet. Wir schätzten, dass am ersten Tag rund 500’000 Menschen aus Ostberlin in die Zwei-Millionen-Stadt kommen würden.

An diesem 9. November weilte ich um 19 Uhr im Springer-Hochhaus an der Verleihung des Goldenen Lenkrads für das beste deutsche Auto, als mir der Chefredakteur der Berliner Morgenpost eine Tickermeldung zeigte.

Darin hiess es, Schabowski habe eine neue Reiseregelung angekündigt. Wir sahen uns dann die Aufzeichnung dieser Pressekonferenz an. An deren Schluss sagte Schabowski, er hätte noch etwas zu verkünden, worauf er die neue Reiseregelung vorlas, sichtlich ohne zu wissen, was drin stand.

Auf die Frage eines Journalisten, ab wann die Regelung gelte, guckte Schabowksi auf den Zettel und sagte: «Ab sofort». Er wurde noch gefragt, ob sie auch für Westberlin gelte, worauf er bejahte.

«Irrtum» verhindern

Nun wussten wir, dass die Situation da war. Als erstes mussten wir eine Dynamik reinbringen, sonst würde denen eine halbe Stunde später einfallen, dass alles ein Irrtum gewesen sei oder Schabowski einen falschen Zettel verlesen habe.

Um 19.35 sagte ich auf dem Sender Freies Berlin: «Das ist der Tag, auf den wir 28 Jahre lang gewartet haben. Wir leben in historischen Tagen und Stunden, und ich freue mich auf alle Besucher, die aus Ostberlin zu uns kommen können. Wenn Ihr zu uns kommt, lasst die Trabbis und Wartburgs zu Hause und kommt mit Bus oder U-Bahn.»

Später sagten mir Menschen aus Ostberlin, erst als der Momper gesagt habe, «Ihr könnt kommen, aber ohne Trabbis und Wartburgs», hätten sie gewusst, was es geschlagen habe.

Um 20.45 übertrug das Fernsehen ein Fussballspiel, das sich Ost wie West anguckte. Um 22 Uhr informierte mich dann der Polizeipräsident, dass Einzelne aus Ostberlin einreisten.

DDR-Grenzer kapitulieren

Um 23.04 war ich in einer Fernseh-Live-Sendung, als ich einen Zettel mit der Information erhielt, dass der Grenzübergang Bornholmer Strasse in beide Richtungen geöffnet sei, wie auch die übrigen elf Grenzübergänge.

An der Bornholmer Strasse war dieser dicke, mecklenburgische Hauptmann. Angesichts der Tausenden von Menschen, die zu drücken begannen, hatte er Angst um die Abschrankungen und die Mauer. Schliesslich sagte er mit resignierender Handbewegung: «Wir fluten jetzt» und liess alle durch. Da sprach eine junge Frau den historischen Satz in eine Kamera: «Es ist Wahnsinn, wir konnten rüber!»

Ich ging an den Grenzübergang Invalidenstrasse. Ein Hauptmann raunzte mich an, ich dürfe hier nicht passieren. Ich sagte ihm, dass er mich als regierenden Bürgermeister doch kenne und mich zu seinem Vorgesetzten bringen solle, ich wolle wissen, was hier los sei. Es herrschte Volksfeststimmung, viele hatten Rotkäppchensekt dabei oder andere geistige Getränke.

Schiessen sie doch noch?

Wir gingen in eine Baracke, in der die Grenzer Ausweise kontrollierten, als sei nichts geschehen. Auf einmal waren die Grenzer verschwunden, und ich war mit Zehntausend Menschen allein. Ich geriet in Angst und Sorge, dass die Grenzer vorn den Übergang schliessen, während hinten die Bereitschaftspolizei in die Menschen schiesst.

Ich kletterte auf einen Tisch und versuchte, die Menschen per Megaphon zum Weitergehen aufzufordern. Sie brachen aber nach jedem Halbsatz in Jubel aus, ich hätte ebenso gut das Telefonbuch vorlesen können.

Denn sie wissen nicht, was tun

Der Hauptmann hat diese Szenen später in einem Buch aus seiner Sicht geschildert. Er hatte seinem Vorgesetzten Meldung gemacht, was er tun solle, der Momper sei hier. Beim Militär ist es ja immer gut, wenn sie keine Befehle haben, dann wissen sie nicht, was tun. Dann hatte er weiter beim diensthabenden Stabschef angerufen und ihm gesagt, dass der Momper hier sei und Volksreden halte.

Der Hauptmann fragte: «Was sollen wir tun? Sollen wir ihn gefangen nehmen und im Keller einsperren?» Darauf hatte der Oberst einen lichten Moment und antwortete: «Oh, mach das ja nicht! Am besten, ihr macht überhaupt nichts und lässt das einfach so laufen!» Seither sage ich immer, das Beste, was das Militär ausser Militärmusik und Katastrophen-Einsätzen tun kann, ist, es einfach so laufen zu lassen.

Symbolische Dreieinigkeit

Gegen ein Uhr standen auf dem Wachturm an der Mauer an der Invalidenstrasse derselbe dicke Hauptmann von den DDR-Grenztruppen, der Abschnittsleiter von der Westberliner Polizei und ein Major der britischen Militärpolizei, in deren Sektor der Übergang stand. Von dort oben regelten die drei den Verkehr durch die schmale Öffnung in der Mauer.

Angesichts dieses Bildes tiefsten Friedens zwischen Menschen, die noch vor kurzem kein Wort miteinander wechseln durften, konnte ich getrost zu Bett gehen.«

Aufgezeichnet von Renat Künzi, swissinfo.ch

Am 2. Mai 1989 durchtrennen die Aussenminister Österreichs und Ungarns, Alois Mock und Gyula Horn, in einer symbolischen Aktion mit grossen Scheren den Grenzzaun zwischen den beiden Ländern.

Am 19. August findet in Sopron an der ungarisch-österreichischen Grenze ein «paneuropäisches Frühstück» statt. In dessen Anschluss flüchten mehrere Hundert DDR-Bürger über die Grenze nach Österreich, ohne dass die ungarischen Grenzsoldaten eingriffen – das erste grosse Loch im Eisernen Vorhang.

Immer mehr DDR-Bürger besetzen die Botschaften der BRD in der Tschechoslowakei, Polen und Ungarn, wo sie die Ausreise nach Westdeutschland verlangen.

Ende September befinden sich über 4000 DDR-Bürger auf dem Gelände der BRD-Botschaft in Prag. Sie konnten mit 17 Zügen nach Westdeutschland ausreisen.

Anfang Oktober halten sich in Prag bereits wieder 5000 Menschen aus der DDR im Botschaftspark der BRD auf.

Am 3. November öffnet die Tschechoslowakei die Grenzen für DDR-Bürger.

Am 9. November fällt die Berliner Mauer.

Der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow versichert, dass sich die Sowjetunion nicht einmischen werde – der Eiserne Vorhang ist definitiv gefallen.

Am 3. Oktober 1990 tritt die DDR der BRD bei, 41 Jahre nach der Teilung ist Deutschland wieder vereint.

Die DDR-Führung hat die Umstände der Todesfälle an der Mauer systematisch verschleiert. Deshalb sind die Angaben zu den Todeszahlen an der Mauer widersprüchlich.

Zwischen dem 13. August 1961 und dem 9. November 1989 kamen an der Berliner Mauer mindestens 136 DDR-Bürger ums Leben. Die meisten wurden von DDR-Grenzsoldaten erschossen.

Weitere Flüchtlinge liessen innerhalb der Sperranlagen («Grenzstreifen») oder im Landesinnern der DDR das Leben.

ChrisO, Wikimedia commons

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