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«Libyen besteht nicht nur aus dem Gaddafi-Regime»

AFP

Die Entschuldigung von Bundespräsident Hans-Rudolf Merz gegenüber Libyen schade dem Image der Schweiz, urteilt der Politologe Ahmed Benani im Interview mit swissinfo.ch.

«Die Schweiz sollte vor den Forderungen dieses Psychopathen, der an der Spitze eines Schurken-Staates steht, nicht in die Knie gehen», sagte Ahmed Benani im Juli 2008, als Muammar Gaddafi im Juli 2008 eine Entschuldigung für die Verhaftung seines Sohnes Hannibal verlangte.

Ein Jahr später hat sich der Bundespräsident entschuldigt. Benani, gebürtiger Marokkaner und Professor an der Universität Lausanne, beurteilt den Ablauf der Krise als «wenig schmeichelhaft» für die Schweiz.

swissinfo.ch: Hat sich die Schweiz in dieser Krise zu weich verhalten?

Ahmed Benani: Auf jeden Fall hat sie sich erniedrigen lassen. Natürlich spielt die Arroganz von Gaddafi eine Rolle, aber das Bild des Rechtsstaates hat stark gelitten, und das ist schockierend.

Es ist umso schockierender, dass in dieser Angelegenheit der Druck von einem Schurkenstaat kommt. In einer Sendung des saudischen TV-Senders «Al Arabiya» hat sich die Genfer Regierung entschuldigt und versprochen, die Sicherheit in Genf zu verbessern.

Dies, um den Ruf des internationalen Genfs nicht zu gefährden. Natürlich: Man will nicht auf die Einnahmen verzichten. All dies gefällt mir nicht.

Es läuft darauf hinaus, dass derjenige Recht hat, der bezahlt. Libyen verkauft der Schweiz Erdöl. Die Schweiz hat ein wirtschaftliches Interesse an Libyen. Deshalb erwartet Libyen ständig Kniefälle.

Ich will die Schweiz nicht anschwärzen, aber sie hat weltweit eine Position, die ihr mehr Spielraum eingeräumt hätte.

In dieser Affäre kommt ein Problem hinzu, das ich als «schlechte Regierungsführung» bezeichnen möchte. Zwischen dem Aussendepartement und dem Bundespräsidenten gab es Funktionsstörungen, genauso wie zwischen der Eidgenossenschaft und dem Kanton Genf.

swissinfo.ch : Zahlt die Schweiz in dieser Affäre auch den Preis für ihre internationale Isolation?

A.B.: Ich denke, dass die multilaterale Diplomatie sich auch für die bilateralen Beziehungen zwischen zwei Ländern vorteilhaft auswirkt. Die Schweiz fühlt sich in dieser Affäre in der Tat ein wenig isoliert, aber sie ist für diese Isolation alleine verantwortlich.

Das Nein zur Integration in die Europäische Union schwächt die Schweiz in einer zunehmend globalisierten Welt. Sie kommt international zusehends unter Druck und realisiert das auch.

swissinfo.ch : Gelingt unseren grossen europäischen Nachbarländern der Umgang mit Libyen besser?

A.B.: Nicht unbedingt. Das Problem ist, dass während dem man sich auf den Terrorismus, Afghanistan, den Nahen Osten und Irak konzentriert hat, eine neue strategische Situation entstanden ist, ohne dass man es gemerkt hat: Wir haben die Aussenpolitik Libyens nicht genau verfolgt. Libyen hat seinen Einfluss auf den ganzen afrikanischen Kontinent ausgeweitet.

Gaddafi ist zum starken Mann Afrikas geworden, auch was die Interessen des Westens betrifft. Die extreme Höflichkeit, mit der ihm Frankreich seit der Affäre um die bulgarischen Krankenschwestern begegnet, zeigt, dass er unumgänglich geworden ist. Gaddafi ist die Schlüsselfigur des afrikanischen Systems.

Die Organisation für die Afrikanische Einheit existiert nicht mehr. An ihrer Stelle hat Gaddafi die Afrikanische Union ins Leben gerufen. Er ist deren Präsident. Er hat militärische Macht und Geld. Viele nennen ihn den «König von Afrika». Er hat viele Trümpfe in der Hand und geht sehr geschickt mit ihnen um.

swissinfo.ch : Könnte die Schweiz in Libyen mehr machen, indem sie die libysche Zivilgesellschaft unterstützen und ihre guten Dienste anbieten würde ?

A.B.: Sie könnte in der Tat ihr Interesse für die Opposition stärker manifestieren, ihr die Möglichkeit geben, ihre Anliegen öffentlich zu machen und im UNO-Menschenrechtsrat zu vertreten.

In allen Diskussionen rund um diese Krise habe ich noch keine einzige libysche oder arabische Stimme gehört. Dennoch gibt es libysche Stimmen, die nicht mit der Haltung des Gaddafi-Regimes übereinstimmen.

Auch in der Schweiz, das kann ich Ihnen versichern. Es gäbe also Möglichkeiten, die Kontakte mit Libyen zu diversifizieren. Libyen besteht nicht nur aus dem Gaddafi-Regime.

Marc-André Miserez, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Französischen: Andreas Keiser)

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Bundespräsident

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Der Bundespräsident (oder die Bundespräsidentin) wird jedes Jahr aus der Mitte der Schweizer Landesregierung (Bundesrat, Exekutive) gewählt, die sieben Mitglieder zählt. Er gilt in dieser Zeit als Primus inter pares, das heisst Erster unter Gleichgestellten, und leitet die Bundesratssitzungen. Das Amt ist repräsentativ und nicht mit zusätzlicher Macht verbunden.

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Ahmed Benani zeigt sich geschockt über die «Mauer des Schweigens», was das Schicksal der beiden ehemaligen Hausangestellten des Ehepaars Gaddafi betrifft.

Die Tunesierin und der Marokkaner, die ihre Klage zurückgezogen haben, seien entschädigt worden, «damit sie den Mund halten», erklärt der Professor, der seither nichts mehr von den beiden gehört hat.

Der Bruder und die Mutter des Mannes allerdings haben die Macht des Regimes Gaddafi zu spüren bekommen.

Der Bruder ist verschwunden und gilt als tot, die Mutter wurde in Libyen gefoltert, bevor sie nach Marokko zurückgeschickt wurde.

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