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Merkels «Schwarz-Rote Vernunftsehe»

Die künftige Bundeskanzlerin Angela Merkel prägt die Frontseiten. swissinfo.ch

Angela Merkel, Deutschlands designierte Kanzlerin, prägt die Frontseiten der meisten Schweizer Zeitungen vom Dienstag. Von Euphorie kann keine Rede sein.

Die Presse nennt die kommenden Herausforderungen, sowohl innerhalb der Koalitionsregierung als auch bezüglich der Reformpolitik.

«Merkel auf der Schwelle zum Kanzleramt», titelt die «Basler Zeitung», «Kämpferin bald am Ziel» die Berner Zeitung und «Merkel gewinnt Machtkampf» die «Luzerner Zeitung».

Die Genfer «Le Temps» bezeichnet die designierte Bundeskanzlerin als «Reformkanzlerin unter Vormundschaft». Die «Berner Zeitung» spricht von einer «Schwarz-Roten Vernunftehe» und stellt fest: «Sie sind zur grossen Koalition verdammt.»

«Dafür, als erste Frau ins Kanzleramt einziehen zu dürfen, zahlt Merkel aber einen hohen Preis», diagnostiziert der «Tages-Anzeiger». Denn die Sozialdemokraten hätten ihr wichtige Schlüsselressorts abgerungen. Von Euphorie habe man am Montag wenig gespürt: «Man ist auf Gedeih und Verderb aneinander geschmiedet, und in beiden Parteien rumort es bereits».

«Von der Konfrontation zum Konzert»

Die Neue «Zürcher Zeitung» streicht den Umstand heraus, dass die «gegenseitigen Positionen keineswegs so weit auseinanderliegen wie das die Propagandisten in der Hitze des Gefechts glauben machen wollen». Zu den wesentlichen Grundfragen gebe es in Deutschland einen breiten Konsens.

Die NZZ vermutet, dass «die meisten Wähler am 18. September nicht die Bildung einer grossen Koalition im Sinne hatten». Sie stellt den Führungen der beiden grossen Parteien sogar ein «ermutigendes Zeugnis politischer Reife» aus, weil sie nach den vielen Animositäten die Weichen für die Koalition gestellt haben.

Gelinge dem Bündnis unter Merkel Ähnliches wie der grossen Koalition von 1966-1969, habe es seine Mission erfüllt. Denn in Deutschland seien, anders an in der Schweiz, grosse Koalitionen «ein zeitlich begrenztes Phänomen».

Die grosse Wende abschminken

Das Boulevardblatt «Blick» lässt Merkels Durchbruch von zwei deutschen Politprofis kommentieren: Die neue Kanzlerin müsse sich die grosse Wende abschminken, heisst es da, und sie sei «Geisel der sozial Gerechten».

Sie werde «einer Riege von SPD-Ministern gegenüber sitzen, die vom ersten Tag an nur eines im Sinn haben: So wenig Merkel wie möglich zuzulassen». Eine Kanzlermehrheit sei noch keine Handlungsmehrheit.

«Bitterer Sieg»

«Der Bund» kommentiert Merkels Sieg gar als «bitter». Denn der von Gerhard Schröder lange durchgezogene Nervenkrieg sei weniger persönliches Machtspiel als politische Rationalität gewesen: «Das Pokern hat sich gelohnt. Die SPD zieht als gleichberechtigte Partnerin in die Regierung ein.»

Nicht dass der alte Kanzler nicht hätte loslassen können, sondern seine Partei wollte ihr bestes Pferd nicht ziehen lassen: «Keiner konnte das riskante Doppelspiel von Beharrungsvermögen und Flexibilität überzeugender spielen als er.»

Merkel trete nun an die Spitze der schwierigsten Koalition seit Bestehen der Bundesrepublik. Sie regiere ohne Mehrheit im Volk. Und in der eigenen Partei gelte sie als Hauptverantwortliche für die unerwarteten Verluste am 18. September.

Der Leidensweg ist nicht vorbei

Die Freiburger «La Liberté» titelt, «Angela Merkels Leidensweg ist noch nicht zu Ende» und verweist darauf, dass mit dem Entscheid von gestern die Koalitions-Verhandlungen noch nicht beendet seien.

Sie werde wohl die grossen liberalen Massnahmen, von denen während des Wahlkampfes die Rede war, aufgeben müssen. «La Liberté» vermutet, dass der alte Kanzler Gerhard Schröder wohl die Regierung verlassen werde. Dennoch habe sich seine Sperrigkeit für die SPD gelohnt, obwohl er damit ganz Deutschland genervt habe: Seine Partei erhält acht Ministerien.

Die Lausanner «24 Heures» schreibt von einer «missmutigen Einsetzung der Kanzlerin». Die Koalition sei «in einem schrecklichen Klima wahlpolitischer Machenschaften» zu Stande gekommen. Ihr mittelmässiges Abschneiden beim Stimmvolk spreche Bände über die Sympathien an der Basis.

swissinfo, Alexander Künzle

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