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Militärintervention in Libyen kaum wahrscheinlich

Auf einem Armeepanzer montierte Fotos von Todesopfern bei den Aufständen in Benghasi. Keystone

Die UNO hat die Repression in Libyen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnet und fordert eine internationale Untersuchung. Pierre Hazan, Experte für Internationales Recht, spricht über die möglichen Aktionsmöglichkeiten gegen das Gaddafi-Regime.

Die UNO hat eine internationale Untersuchung des brutalen Vorgehens des libyschen Herrschers Muammar al-Gaddafi gegen die Oppositionsbewegung gefordert. Die UNO-Menschenrechts-Kommissarin Navi Pillay forderte am Dienstag in Genf ein sofortiges Ende der Gewalt.

Angesichts der «systematischen Angriffe auf die Bevölkerung» könnte die libysche Führung wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt werden, sagte Pillay.

swissinfo.ch fragte den Genfer Pierre Hazan, Experte für Internationales Recht und Dozent für Politische Wissenschaften in Paris, welche Instrumente die Internationale Gemeinschaft gegen das Gaddafi-Regime überhaupt hat.

swissinfo.ch: Nach Darfur entsandte die UNO Truppen zum Schutz der Bevölkerung. Wäre das in Libyen auch möglich?

Pierre Hazan: Theoretisch kann der UNO-Sicherheitsrat enorm viele Aktionen unternehmen. Aber in der Praxis…Ich wäre sehr überrascht, wenn das der Fall sein würde. Die Situation in Libyen ist völlig anders als im Sudan. Viele Staaten in der Nahost-Region wären besorgt über einen möglichen Angriff auf ihre nationale Souveränität.

Die westlichen Staaten ihrerseits haben die Mittel nicht, um sich in ein solches Abenteuer zu stürzen. Viele Elemente sprechen dagegen. Die Staatsverschuldung der USA und anderer grosser westlicher Länder ist beträchtlich, ihre militärische Stärke ist eingeschränkt. Die Truppen sind bereits in Afghanistan oder Irak. Und sogar das Prinzip dieser Einmischung wäre problematisch.

swissinfo.ch: Ist das vorsichtige Verhalten der Europäer mit der Angst zu erklären, dass der Sturz des Gaddafi-Regimes eine massive Immigrationswelle bewirken könnte?

P.H.: Nein, im Gegenteil. Je schneller das Regime gestürzt wird, desto schneller kann eine neue Regierung eingesetzt werden, die den Immigrationsprozess nach Europa besser in den Griff bekommt. Gaddafi ist total am Ende, er hat nichts mehr zu verlieren. Er kann die Europäer mit der unkontrollierten Immigration erpressen. Mit einer neuen libyschen Regierung, die auf internationale Hilfe angewiesen ist, würde das ganz anders aussehen.

Die politische Lage in der Region ist auch anders. Die Solidarität der arabischen Länder, von der noch vor einem Monat viel gesprochen wurde, ist nicht mehr vorhanden. Gaddafi hat eine Jagd auf Ausländer in seinem Land eröffnet. Er wird von den anderen arabischen Ländern nicht mehr gedeckt.

Der Ölpreis erhöht sich derzeit massiv. Es liegt im Interesse zahlreicher Konsumentenländer, die Stabilität zurückzugewinnen. Ich glaube nicht, dass die Rückkehr zur Normalität mit einer Rückkehr Gaddafis an die Macht verbunden sein kann.

Letzten Endes werden die Kräfteverhältnisse entscheidend sein. Wenn Gaddafi noch über eine genügend starke Armee verfügt, die sich nicht spaltet, kann er mit einem Blutbad die Ordnung vielleicht wiederherstellen. Wenn das Kräfteverhältnis aber nicht zu seinen Gunsten ist, dann wird sein Sturz unausweichlich sein.

swissinfo.ch: Gaddafi führt mit seinen Milizen quasi einen Bürgerkrieg gegen die eigene Bevölkerung, mit Hunderten von Todesopfern. Was kann die internationale Gemeinschaft dagegen tun?

P.H.: Neben der UNO kann auch der Internationale Strafgerichtshof (ICC) eine Untersuchung einleiten. Libyen hat die Statuten des ICC zwar nicht ratifiziert, aber der Strafgerichtshof kann dennoch einen solchen Schritt machen.

Der UNO-Sicherheitsrat kann ebenfalls gewisse Massnahmen ergreifen. Er kann Sanktionen erlassen und den Fall an den ICC weiterleiten, was eine stärkere Wirkung hat. Im Fall von Darfur hat eine Resolution des UNO-Sicherheitsrats den ICC ins Spiel gebracht. Mit Libyen könnte das gleiche geschehen.

Instrumente zum Handeln sind also vorhanden, aber sie sind relativ beschränkt.

swissinfo.ch: Was ist von einer internationalen Untersuchung der UNO zu erwarten?

P.H.: Eine präzise Auslegung der Fakten, aber das braucht Zeit. Falls sich die Fakten erhärten, und es kriminelle Akte sind, wie man das vermutet, wird Muammar Gaddafi verurteilt. Diese Verurteilung wird aber nur dann wirksam, wenn ein Organ sich als befugt erachtet, den Fall aufzunehmen. Für mich kann das nur der ICC sein.

Auch das Prinzip der universellen Zuständigkeit könnte aktiv werden. Danach können die Verantwortlichen der Massaker in Libyen verhaftet werden, wenn sie in ein anderes Land gehen, das gegen sie ein Verfahren eröffnen würde.

swissinfo.ch: Kann sich der ICC auch andere in der Region gestürzte Diktatoren vornehmen, wie zum Beispiel Hosni Mubarak und Zide Ben Ali?

P.H.: Diese Fälle sind anders. Das Schiessen auf Zivilisten aus Flugzeugen und Helikoptern übersteigt die Repression in Tunesien und Ägypten. Die tunesische Regierung verlangt die Auslieferung Ben Alis. Das Land manifestiert damit den klaren Willen, den gestürzten Diktator vor Gericht zu bringen.

Der ICC handelt nur als letzte Instanz, und in diesem Fall gibt es für den Strafgerichtshof keinen Grund, dies zu tun. Im Fall Mubarak ist es so, dass sich der gestürzte Präsident noch in Ägypten befindet. Deshalb sind die ägyptischen Behörden die Erstbefugten, Mubarak vor Gericht zu bringen.

Im Fall Gaddafi wäre ein Haftbefehl ein starkes Zeichen für die internationale Justiz.

swissinfo.ch: Sudans Präsident Omar al-Bashir wurde vom ICC wegen Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt. Eine Premiere für einen amtierenden Staatspräsidenten. Könnte der ICC dies auch im Fall Gaddafi tun?

P.H.: Die Haltung des UNO-Sicherheitsrates wird entscheidend sein. Wenn er entscheidet, sich an den ICC zu wenden, wäre das ein genügend starkes Zeichen. Man muss aber dennoch ein bisschen vorsichtig sein mit den Bezeichnungen. Gewisse libysche Oppositionelle sprechen von Genozid. Glücklicherweise sind wir noch weit davon entfernt, auch wenn kriminelle und blutige Handlungen wahrscheinlich stattgefunden haben.

Das UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR appelliert angesichts der blutigen Unruhen in Libyen an die Weltgemeinschaft, Flüchtlinge aufzunehmen. «Alle Staaten müssen die Bedürfnisse der Menschen anerkennen, die gezielter Gewalt, Bedrohung und anderen Menschenrechts-Verletzungen in Libyen zu entkommen versuchen», erklärte eine UNHCR-Sprecherin am Dienstag in Genf. Das Hilfswerk selber hat nach eigenen Angaben derzeit keinen Zugang zu Flüchtlingen in Libyen.

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) rief die libyschen Behörden und Sicherheitskräfte, aber auch Demonstranten und andere Beteiligte auf, das Leben und die Würde des Menschen jederzeit zu achten. Die Organisation in Genf sprach von eskalierender Gewal, die Tote und Verletzte fordere, in Benghasi und anderen libyschen Städten. Das IKRK stehe mit den libyschen Behörden über die Mission des nordafrikanischen Landes in Genf in Kontakt.

Der libysche Staatschef Muammar al-Gaddafi will die Protestbewegung in seinem Land weiter bekämpfen. Er werde notfalls als Märtyrer sterben, sagte er am Dienstag in einer vom Staatsfernsehen übertragenen Ansprache.

Ein vor Wut schreiender Gaddafi versuchte, die Bürger seines Landes doch noch auf seine Seite zu ziehen. Der 68-jährige Gaddafi, der von einem halb zerstörten Gebäude aus sprach, sagte: «Verräter beschmutzen das Image eures Landes vor der ganzen Welt.»

Er rief: «Muammar al-Gaddafi ist kein Präsident, er ist der Führer der Revolution.(…) Dies ist mein Land, das Land meiner Grossväter und eurer Grossväter.»

(Übertragung aus dem Französischen: Jean-Michel Berthoud)

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