Parteien ja, aber bitte nicht in der Gemeinde
Fast die Hälfte der Schweizer Gemeinderäte gehören keiner Partei mehr an. Das bestätigt eine Studie des Soziologischen Instituts der Universität Zürich. Die Arbeit der Exekutiven scheint darunter nicht zu leiden.
Immer wieder und immer öfter lesen oder hören wir diese Sätze: «Ich weiss bald nicht mehr, wen wählen. Ich kann mich mit keiner politischen Partei hier mehr so richtig identifizieren.» Und, was wählen Sie dann? «Wohl das kleinste Übel. Aber ich habe mir auch schon überlegt, nicht mehr zur Urne zu gehen.»
Für den Politologen Georg Lutz kommen solche Aussagen nicht überraschend, er kennt sie. «Sie treffen den Zeitgeist. Seit dem Ende des Kalten Krieges sind die politischen Parteien etwas Einheitsbrei geworden», sagt er gegenüber swissinfo.ch. Eine Mehrheit der Schweizer Bevölkerung sei sich eigentlich einig, wohin die Reise gehen soll. «Marktwirtschaft ja, aber sozial abgefedert.» Was für Lutz heisst, Sachpolitik komme vor Parteibuch oder gar Parteiengezänk.
Dass die Folgen dieses gesellschaftspolitischen «Wandels» in den kleineren Gemeinden zuallererst manifest werden, scheint Georg Lutz auch einleuchtend. «Unser Milizsystem stösst an seine Grenzen.» Gemeindepolitiker müssten viel arbeiten, «sind schlecht bezahlt und kriegen am Stammtisch gehörig eines aufs Haupt, wenn mal etwas schief läuft. Da ist es nur logisch, dass die etablierten Parteien Mühe bekunden, genügend fähige Leute zu finden.»
Sachpolitik statt Parteiengezänk
Die Studie der Universität Zürich belegt diesen Befund nun. Sie hat erstmals alle 15’500 kommunalen Exekutivmitglieder der Schweiz befragt. Zu ihrem sozialen Hintergrund sowie ihrer politischen Einstellung und Tätigkeit. Gegen 50 Prozent gehören keiner Partei an.
Fast alle sind sie überzeugt, dass die Gemeindepolitik ohne Parteien genau so gut funktioniere. Überdurchschnittlich häufig gaben die Befragten an, dass die Parteien zu stark auf Konflikte, statt auf die wirklichen Probleme der Gemeinde ausgerichtet seien.
Dabei stellen die parteilosen Exekutivmitglieder den Nutzen der Parteien auf Bundesebene nicht grundsätzlich in Frage. Viele können sich mit den Regierungsparteien (Bundesrat) identifizieren. Parteien ja, aber bitte nicht in der Gemeinde, scheint das Motto der Stunde zu heissen.
Stolz auf den Rat
Leila Arn Müller ist Gemeindeschreiberin in der 500-Seelen-Gemeinde Trimstein unweit von Bern. Sie erlebt den Befund der Studie tagtäglich. «Bei uns sind sechs von sieben Gemeinderatsmitgliedern parteilos. Gegenüber swissinfo.ch wird sie deutlich. «Viel Büez, wenig Renommée». Viel Arbeit müsse ein Gemeinderat leisten und erhalte dafür nur wenig Lob. Personalmangel sei die Folge.
So habe die in der Gemeinde politisch dominierende Schweizerische Volkspartei (SVP) akzeptiert, dass immer mehr Parteilose in den Gemeinderat einzögen. Fachleute ohne Parteibuch, aber eben Fachleute.
«Viele Probleme unserer kleinen Gemeinde müssen fachlich und nicht parteipolitisch gelöst werden», sagt Arn Müller. «Wir müssen nicht über die Abschaltung eines AKWs befinden, sondern über die Sanierung der Kanalisation oder des Schulhauses.» Deswegen seien parteilose Fachleute im Rat für die Gemeinde ein Segen. «Glauben Sie mir, ich habe einen tollen Gemeinderat.»
Noch lange kein parteiloser Bundesrat
Der Aufstieg der Parteilosen habe in den 1980er-Jahren begonnen, steht in der Studie der Uni Zürich. «Der berufliche Aufstieg ging früher geradezu mit der Bürgerpflicht einher, in der Gemeinde ein politisches Amt zu übernehmen», steht da. «Heute sind die Bürgerinnen und Bürger mobiler, flexibler und individualistischer.»
Studienleiter Urs Meuli: «Es ist eben nicht mehr die Karriere in einer Partei, die interessiert, sondern das konkrete oft befristete Engagement für ein Anliegen in der Gemeinde, beispielsweise eine Tempo 30-Zone im Quartier.
In Gemeinden mit weniger als 1000 Einwohnern sind politische Parteien heute praktisch inexistent. «
Bleibt die Frage, wann sich dieser Trend bis in die Bundespolitik gemausert haben wird. Wann hat die Schweiz den ersten parteilosen Bundesrat?
«Das wird noch sehr, sehr lange dauern», ist der Politologe Georg Lutz überzeugt. Zum einen hätten sich die etablierten Parteien in den vergangenen hundert Jahren schon der Zeit angepasst. Auch hätten die Parteien auf Bundesebene noch genügend Mitglieder. «Zudem werden die handfesten Interessen, den Kuchen, sprich die Macht, unter sich aufzuteilen, einen parteilosen Bundesrat noch lange verhindern.»
Urs Maurer, swissinfo.ch
Befragt wurden alle 15’500 kommunalen Exekutivmitglieder der Schweiz.
Gefragt wurde nach dem sozialem Hintergrund und der politischer Einstellung.
Gegen 50% gehören keiner Partei an.
In Gemeinden mit weniger als 1000 Einwohnern sind Parteilose in der Mehrheit.
Diese Entwicklung begann in den 1980er-Jahren mit dem Ende des Kalten Krieges.
Parteilose wohnen weniger lange in der Gemeinde (weniger als 20 Jahre) als Parteimitglieder.
An der Studie «Gemeindepolitik ohne Parteien?» unter der Federführung des Soziologischen Instituts der Universität Zürich (Lehrstuhl Prof. Geser) ist auch das «Institut des hautes études en administration publique» (IDHEAP) in Lausanne sowie das Kompetenzzentrum für Public Management (KPM) der Universität Bern beteiligt.
Detaillierte Ergebnisse sollen im Frühjahr 2010 publiziert werden.
Die Studie schliesst an die Untersuchung «Die Schweizer Lokalparteien im Wandel» (2003) am Soziologischen Institut der Uni Zürich an.
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