Schiffbruch für IV-Zusatzfinanzierung
Die Zusatzfinanzierung für die verschuldete Invalidenversicherung (IV) ist vorläufig gescheitert. Nach zweitägiger Debatte hat der Nationalrat die Vorlage abgelehnt.
Gestolpert ist die IV-Finanzierung über den Plan einer unbefristeten Mehrwertsteuer-Erhöhung. Dahinter stehen aber auch taktische Spiele der Parteien im Wahljahr.
Nach einem langen Hin und Her war das Schicksal der beiden Vorlagen besiegelt: Der Bundesbeschluss zur Anhebung der Mehrwertsteuer (MWST) wurde mit 100 zu 77 Stimmen bei 8 Enthaltungen abgelehnt.
Die Gesetzesänderung zur befristeten Übertragung der IV-Schuldzinsen auf den Bund scheiterte mit 93 zu 85 Stimmen bei 6 Enthaltungen.
Den Ausschlag gab am Ende nicht die Schweizerische Volkspartei (SVP), die von Anfang an gegen zusätzliche Mittel für die IV war. Vielmehr trugen die Freisinnigen (FDP) und die Christlichdemokraten (CVP) die Vorlagen nicht mehr mit. Dies, nachdem es der Rat am Montag abgelehnt hatte, die proportionale Mehrwertsteuer-Erhöhung auf sieben Jahre zu befristen.
Keine zweite Chance
FDP-Fraktionschef Felix Gutzwiller versuchte zusammen mit der CVP vergeblich, den vom links-grünen Lager nur dank der Stimmenthaltung der SVP errungenen Verzicht auf die Befristung rückgängig zu machen. Der Rat sprach sich gegen ein Rückkommen und damit gegen eine «zweite Chance» aus.
Unter diesen Umständen lehne die FDP die Zusatzfinanzierung ab, sagte Gutzwiller vor der Gesamtabstimmung. Das von einer breiten Allianz getragene Konzept der Kommissions-Mehrheit sei nun schief. Dem schloss sich Brigitte Häberli im Namen der CVP an.
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Invaliden-Versicherung
Geschlagene SP stimmt zu
Zustimmung signalisierte die Sozialdemokratische Partei (SP), obschon sie fast durchwegs verloren hatte. In der Tat hatte der Rat von einer Erhöhung der Lohnbeiträge statt der MWST nichts wissen wollen, die volle Tilgung der IV-Schuld durch den Bund abgelehnt und die MWST-Erhöhung «erpresserisch» an die Annahme der 5. IV-Revision in der Volksabstimmung vom 17. Juni geknüpft.
Im Gegensatz zur SP hatten die Grünen für die MWST-Erhöhung und gegen Lohnprozente votiert. Umso weniger verstand der Christlichsoziale Hugo Fasel von der Grünen Fraktion, dass FDP und CVP das Geschäft platzen liessen: Sie könnten die Befristung im Ständerat doch problemlos durchsetzen.
Der Zweitrat werde für Klarheit sorgen, sagte Heiner Studer von der EVP/EDU-Fraktion (Evangelische Volkspartei, Eidgenössische Demokratische Union).
Die SVP wiederum sah keinen Grund, von ihrer Position abzurücken. Mehr Geld für die IV gebe es erst, wenn die Missstände und die Defizite beseitigt seien, sagte Toni Bortoluzzi. Das brauche drei bis vier Jahre, sei aber der einzig richtige Weg.
Couchepin spricht von Lüge
Bundesrat Pascal Couchepin kritisierte diese Haltung scharf. Wer dem Volk vorgaukle, die IV liesse sich ohne zusätzliche Einnahmen mit etwas gutem Willen ins Lot bringen, sei ein «Lügner». Der Rest sei Taktik, so der Sozialminister in Erwartung der sicheren Ablehnung durch den Rat.
Mit dem Scheitern der Vorlagen in der Gesamtabstimmung sind die zum Teil knapp zustande gekommenen Detailbeschlüsse des Nationalrates nichtig. Am Zug ist nun der Ständerat.
Unverständnis bei den Behindertenorganisationen
Bei Behindertenorganisationen stösst der Entscheid auf Unverständnis. Dass er die Zusatzfinanzierung der IV vorläufig scheitern liess, können sie nicht nachvollziehen. Vorab die Ratsmitte sorgt für Ratlosigkeit.
«Ich verstehe die Ratsmitte nicht ganz», sagte Benjamin Adler,stellvertretender Zentralsekretär der Behinderten-Selbsthilfe Schweiz AGILE.
Die angesprochenen Parteien CVP und FDP blicken zuversichtlich auf die Ständeratsdebatte. Dort seien die Mehrheitsverhältnisse anders als in der grossen Kammer.
swissinfo und Agenturen
Defizit der IV 2006: 1,5 Mrd. Fr.
Schulden der IV Ende 2006: 9,3 Mrd. Fr.
Dafür bezahlte Zinsen: 221 Mio. Fr.
Laufende Renten 2006: 257’200
Gegen die 5. Reform der Invalidenversicherung, die am 17. Juni zur Abstimmung kommt, war von linker Seite das Referendum ergriffen worden.
Unter dem Motto «Arbeit vor Rente» sieht die Revision vor, den Zugang zur IV-Rente zu erschweren. Stattdessen soll vermehrt auf Eingliederung gesetzt werden.
Der Begriff der Invalidität wird restriktiver ausgelegt und gewisse Leistungen werden gekürzt. Insgesamt sollen damit bis 2025 jährlich gegen 600 Mio. Franken eingespart werden.
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