Sterbehilfe: Mehr Frauen und nicht Todkranke
In der Schweiz lassen sich immer mehr Lebensmüde, die nicht an einer tödlichen Krankheit leiden, in den Freitod begleiten, wie eine Studie zeigt. Auch Frauen und Hochbetagte nahmen vermehrt Sterbehilfe in Anspruch.
Welche Menschen gehen in Begleitung von Sterbehilfeorganisationen wie Dignitas und Exit in den Freitod? Und weshalb entscheiden sie sich, ihr Leben so zu beenden? Obwohl die Schweiz auf dem Gebiet der aktiven Sterbehilfe international zu den Spitzenreitern gehört, fehlten bisher genauere Daten, um solche Fragen zu beantworten.
Die Studie «Letzte Wahl: begleiteter Suizid und Sterbetourismus in der Schweiz» soll Lücken schliessen. Sie wurde unterstützt vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF). Die Autoren erfassten die Daten von 421 Menschen, die zwischen 2001 und 2004 begleitet in den Tod gingen. 274 nahmen die Dienste von Dignitas in Anspruch, 147 Sterbewillige diejenigen von Exit.
Öffnung schlägt sich nieder
Fast doppelt so viele Frauen wie Männer nahmen Suizidbeihilfe in Anspruch (Exit: 65% Frauen; Dignitas: 64%). «Dieser Frauenanteil ist im Zusammenhang mit den ebenfalls gestiegenen Anteilen an Menschen über 85 Jahren und denjenigen derer ohne tödliche Krankheit zu sehen», sagt Mitautorin Susanne Fischer gegenüber swissinfo.
Gemäss der Soziologin an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZAHW) hat Exit bereits in den 1990er-Jahren eine Öffnung angekündigt. Sie wollten Sterbehilfe vermehrt auch älteren Menschen anbieten, die lebensmüde sind und nicht an einer tödlichen Krankheit leiden.
Bei den Hochbetagten über 85 Jahre, die sich 2001 bis 2004 von Exit in der Stadt Zürich in den Tod begleiten liessen, betrug der Anteil 36%. In den Jahren 1990 bis 2000 hatte diese Altersgruppe noch 16% der Fälle ausgemacht.
Auch wenn die grösste Zunahme bei über 85-Jährigen liegt, waren 80% der Sterbewilligen zwischen 45 und 84 Jahre alt.
Knapp drei Viertel der Sterbewilligen litten an tödlichen Krankheiten wie Magen-, Darm-, Lungen- oder Brustkrebs oder neurologischen Erkrankungen wie Multiple Sklerose.
Grenzen der Palliativmedizin
«Auch die Palliation (Behandlung von Menschen mit tödlicher Krankheit, die Red.) kann Situationen nicht verhindern, in denen Menschen massiv leiden», sagt dazu Ko-Autor Lorenz Imhof, Pflegeforscher an der ZAHW. Romy Mahrer von derselben Hochschule verdeutlicht: «Nicht Leben oder Tod ist die Frage, sondern die Art des Sterbens.»
Markant gestiegen ist der Anteil derjeniger, die begleitet in den Freitod gingen, ohne an einer tödlichen Krankheit zu leiden, nämlich von 22% in den 1990er-Jahren auf 34% im untersuchten Zeitraum 2001 bis 2004. Rheuma und chronische Schmerzen sind hier die häufigsten Gründe.
«Lebensmüdigkeit und ein allgemein schlechter Gesundheitszustand haben bei älteren Menschen aus der Schweiz an Bedeutung gewonnen als Motiv dafür, Suizidbeihilfe zu suchen», sagt Susanne Fischer.
Sowohl Dignitas als auch Exit haben in einzelnen Fällen bei psychisch Kranken Suizidbeihilfe geleistet. Missbrauch hätten die Autoren der Studie aber in keinem Fall festgestellt, hielt Studienleiter Georg Bosshard fest, leitender Arzt für Klinische Ethik am Unispital Zürich.
Grosse Unterschiede
Die Wissenschafter sind auf Unterschiede zwischen den beiden Organisationen gestossen. Während bei Dignitas über 90% der Sterbewilligen aus dem Ausland zum Sterben in die Schweiz reisen – Stichwort Sterbetourismus -, stammen die Lebensmüden bei Exit fast ausschliesslich aus dem Inland (96,6%). Aufgrund des internationalen Einzugsgebiets begleiten Dignitas-Helfer doppelt so viele Menschen in den Tod wie diejenigen von Exit.
Man muss relativieren: Mit einem Anteil von 0,4% an allen Todesfällen ist Suizidbeihilfe in der Schweiz marginal. Doch damit liegt die Schweiz in einer EU-Studie an der Spitze. Da mag es überraschen, dass bisher kaum Grunddaten verfügbar waren.
«Sterbehilfe wird in der Schweiz wie andere Bereiche sehr dezentral gehandhabt», gibt Studienleiter Bosshard eine mögliche Erklärung. «Suizidbeihilfe ist nicht das einzige Feld, auf dem es relativ lange dauert, bis man sich von zentraler Warte aus einen Überblick verschafft».
«Diskussion nötig»
Mit der Erhebung hoffen die Autoren um Bosshard, einen sachlichen Beitrag zu einer Diskussion zu leisten, die aufgrund der zunehmenden Bedeutung des begleiteten Freitods notwendig sei. «Eine Frage lautet, ob wir diesen offenen Weg der Suizidbeihilfe wollen. Die gesellschaftliche Meinung ist da sehr klar, grundsätzlich wollen wir diesen Weg», so Bosshard.
Dann stelle sich aber die Frage nach ethischen Grenzen und Regulierung. Als Mitglied der Zentralen Ethikkommission der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften plädiert er für Grenzen.
Organisationen in die Pflicht nehmen
Solche sollten jedoch nicht an medizinische Diagnosen geknüpft werden wie im US-Bundesstaat Oregon. Dort sei Sterbehilfe nur erlaubt, wenn die Lebenserwartung noch maximal sechs Monate betrage. «Eher sehe ich eine Aufsichts-, Registrierungs- und Bewilligungspflicht für Sterbehilfeorganisationen», sagt Georg Bosshard.
Damit stösst er auf politischer Seite auf offene Ohren. Die Schweizer Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf will dem Sterbetourismus, der das Image der Schweiz im Ausland belastet, mit einem Gesetz eindämmen. Ihr Vorgänger Christoph Blocher dagegen hatte immer den Standpunkt vertreten, dass das Schweizerische Strafgesetz mit dem entsprechenden Artikel 115 ausreiche.
swissinfo, Renat Künzi
Es gibt in der Schweiz fünf Sterbehilfe-Organisation; die grössten sind Exit und Dignitas.
Zahlen 2006:
Über 350 Begleitungen in den Tod.
Exit (50’000 Mitglieder): 150 Sterbebegleitungen (nur Schweizer Bürger).
Dignitas (5000 Mitglieder): 195 Sterbebegleitungen, davon 120 an Deutsche.
Indirekte aktive Euthanasie (aktive Sterbehilfe): Einsatz von Mitteln, deren Nebenwirkungen die Lebensdauer herabsetzen können.
Passive Sterbehilfe: Verzicht auf die Einleitung lebenserhaltender Massnahmen oder Abbruch solcher Massnahmen.
Beide Methoden gelten in der Schweiz als zulässig.
Direkte aktive Sterbehilfe: gezielte Tötung zur Verkürzung der Leiden eines Menschen.
Diese Methode ist in der Schweiz strafbar.
«Sterbetourismus»: Unheilbare Kranke aus umliegenden Ländern, deren Gesetzgebung restriktiver ist, reisen in die Schweiz, um sich beim Sterben helfen zu lassen.
Schweiz: Sehr liberale Praxis. Passive Euthanasie (Einstellen einer Therapie, Abstellen von Maschinen) nicht strafbar.
Aktive Euthanasie gilt als Tötung und ist strafbar.
Deutschland: Suizidbeihilfe ist Ärzten untersagt.
Frankreich: Passive Euthanasie ist Ärzten und Angehörigen künftig erlaubt. Aktive Euthanasie aber weiterhin verboten.
Italien: Weder aktive noch passive Sterbehilfe sind erlaubt.
Niederlande: Entscheid liegt bei den Ärzten, deshalb sehr restriktiver Einsatz.
England: Restriktivste Regelung in Europa. Sterbehilfe ist gesetzlich nicht vorgesehen («Sterbetourismus»).
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch