Viele Vermisste in Kosovo bleiben verschwunden
Zwölf Jahre nach Ende des Kosovokriegs liegen in Pristinas Leichenhaus immer noch rund 130 nicht identifizierte Opfer aus der Zeit des Konflikts. Gelöste Fälle gibt es immer weniger.
Valérie Brasey, Menschenrechts-Spezialistin aus Genf, hilft den Forensikern in Kosovo, die sterblichen Überreste zu identifizieren. Sie kontaktiert die Familien, die immer noch nach ihren Vermissten suchen, sie versucht sie von Blutproben für die DNA-Erbguttests zu überzeugen, sie erhält Informationen über neue Orte, wo noch unbekannte Opfer begraben sein könnten.
Bezahlt wird Brasey von der Sektion Friedenspolitik der Politischen Direktion des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten EDA. EDA-Sprecherin Caroline Tissot erklärt, weshalb das Aussenministerium dieses Projekt unterstützt: «Die Identifikation von Opfern gehört zur Aufarbeitung der Vergangenheit. Damit werden die Spannungen zwischen ethnischen Gruppen abgebaut. Es hilft auch beim Transitionsprozess in Richtung Frieden, was schliesslich der Stabilität im gesamten Südosten Europas zu Gute kommt.»
Von allen Toten aus dem Konflikt von 1998 und 1999 in Pristinas Leichenhalle sind DNA-Proben genommen worden. Doch 320 Opfer können nicht identifiziert werden, weil es keine Blutproben zum Vergleichen gibt.
20 Familien haben 2010 Blutproben zur Verfügung gestellt. In drei Fällen wurden Übereinstimmungen mit Opfern im Leichenhaus gefunden. Diese Familien hatten völlig Unbekannte bestattet in der Meinung, es seien ihre engen Verwandten gewesen.
Nicht richtig identifiziert
Das Durcheinander begann 1999, als die sterblichen Überreste jener, die nicht identifiziert werden konnten, begraben wurden. Im gleichen Jahr hatte das Internationale Gericht für Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien ein forensisches Team nach Kosovo geschickt, um Informationen zu sammeln.
«Das Team fand zahlreiche Gräber und exhumierte Tausende von Opfern, um Beweise zu sammeln, dass Kriegsverbrechen begangen worden waren», sagt Brasey. «Die Identifikation der Opfer war deshalb nicht immer prioritär. Teils sind die Opfer wieder bestattet worden, ohne Dokumentation, wo sie ursprünglich gefunden worden waren.»
Statistiken zeigen, dass rund zehn Prozent der gefundenen und 1999 bestatteten Opfer falsch identifiziert worden sind.
Informationen über begrabene Opfer sammelten damals aber auch NATO-Streitkräfte und Beauftrage der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), oft ohne die Daten untereinander auszutauschen.
Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) arbeitet sich nun durch diese Dokumente, um mögliche weitere Grabstätten herauszufinden. Während des Konflikts war das IKRK in Kosovo engagiert, und die Liste des Komitees von den Vermissten gilt als offizielles Referenzdokument.
Mühsames Freilegen von Informationen
Lina Milner leitet die Arbeitsgruppe für Personen, die seit dem Konflikt von 1998/99 und in den Jahren danach vermisst sind. Regelmässige Treffen zwischen serbischen und kosovarischen Regierungsvertretern und forensischen Experten haben zum Ziel, neue Informationen über Grabstätten zu erhalten.
Dank dieser Kontakte und dank der Informationen von Seiten der Familienvereinigungen liess sich die Liste der Vermissten von über 6000 auf 1822 reduzieren. Aber der auf Freiwilligkeit basierende Informationswille sowohl der serbischen als auch der kosovarischen Regierung habe in letzter Zeit nachgelassen, sagt Milner.
Obschon die verschiedenen Parteien in dieser Arbeitsgruppe brauchbare Informationen liefern, kann es noch Jahre dauern, bis die Opfer wirklich identifiziert sind. In den letzten drei Jahren sind nur 30 Vermisste wirklich identifiziert worden.
Milner bestätigt, dass dies ein frustrierender Prozess sei: «Wir bemühen uns sehr, alle Parteien zu drängen, neue Wege oder Möglichkeiten zu finden, um an Grabstätten zu kommen, zum Beispiel über Augenzeugen oder Archive. Am besten wüssten dies natürlich die mutmasslichen Täter.»
Haki Kasumi steht einer Familienvereinigung für vermisste albanische Kosovaren vor. Sein Schwager Ukshin Hoti, ein prominenter politischer Aktivist, war 1994 von den Serben inhaftiert worden. Er hätte 1999 freigelassen werden sollen, ist aber nie mehr aufgetaucht.
Die Familie zahlte Tausende von Euro für Informationen über seinen Verbleib, aber die angeblichen Informanten verschwanden mit dem Geld. «Jene Familien, die Mitglieder vermissen, tun alles, um sie wieder zu finden. Wir sind nicht die einzige Familie, die auf diese Weise Geld verloren hat», sagt Kasumi.
Neue Grabstätten
Die Abteilung für forensische Medizin in Pristina hat 2011 weitere 20 Orte identifiziert, wo Exhumierungen vorgenommen werden könnten. Bei den meisten handelt es sich um Einzelgräber in Kosovo. Aber auf der Liste figurieren auch einige grosse und komplexe Grabstätten.
Die Wand des Büros von Valérie Brasey in der forensischen Abteilung ist von einer detaillierten Landkarte bedeckt. Die Abteilung ist Teil der Eulex, der Rechtsstaatlichkeitsmission der EU in Kosovo. Rote und grüne Nadeln zeigen Grabstätten an. Brasey zeigt auf das Dorf Zhilivode Vushtrri. Eine Hochburg der früheren UCK, wo anscheinend 23 Serben umgebracht und in eine alte Mine geworfen wurden.
Die komplizierte Exhumierung dürfte Zehntausende von Euro kosten, denn die Opfer liegen wahrscheinlich 25 Meter unter der Erdoberfläche in einem verschüttenen Minenschacht. Die Regierung hat sich zu einer Beteiligung bereit erklärt. Sie wird die Exhumierung auch logistisch unterstützen.
Eine weitere Nadel markiert auf der Karte einen Ort im Gebirge an der Grenze zu Montenegro. Dort soll es ein Massengrab geben. In diesem stark verminten Gebiet sollen sieben oder acht serbische Soldaten liegen. Es wird eine teure Minensäuberungs-Aktion brauchen, bevor diese Opfer exhumiert werden können.
Unidentifizierbare Asche
Rund 400 Opfer sollen laut Schätzungen während des Kriegs eingeäschert worden sein. Asche wurde in der Nähe des Dorfs Goden bei Djakovica gefunden. Es soll sich gemäss Zeugen um 20 Personen handeln, die dort zuerst erschossen worden waren. «Ich hätte diese Asche gerne den Gemeinden zurück gegeben», sagt Brasey.
«Wir haben die Regierung in Kosovo gebeten, den Familien der Opfer gültige Dokumente auszustellen. Damit könnten sie ihr Leben einfacher weitergestalten, und auch beginnen, sich um die Erbschaft zu kümmern.»
Die EU hat das Problem der Vermissten im Kosovo traktandiert. Das IKRK hofft, dies werde die beiden Parteien im Kosovo motivieren, mehr Energie und Ressourcen in die Suche und Identifikation dieser Konfliktopfer zu stecken.
Die (früher autonome) Teilrepublik Kosovo war der letzte Teil des auseinander fallenden Jugoslawien, dessen Loslösung von den Serben mit Gewalt verhindert wurde.
Dies gipfelte 1998/9 im Kosovo-Krieg, der wie jene in Bosnien und Kroatien zuvor zu ethnischen Säuberungen und Verstössen gegen die Menschenrechte geführt hat.
Erst die NATO-Bombardierungen konnten Serbien Einhalt gebieten.
Ab 1999 stand Kosovo unter der UNO-Übergangsverwaltung.
Am 17. Februar 2008 erklärte Kosovo seine Unabhängigkeit. Zehn Tage später beschloss die Schweiz seine Anerkennung.
In der Schweiz leben rund 170’000 Personen kosovarischer Herkunft.
Die meisten albanisch-kosovarischen Vermissten verschwanden während des Konflikts, besonders während der Zeit, als die NATO serbische Ziele bombardierte.
Die Vermissten serbischer und anderer Ethnien verschwanden in den Monaten nach dem Krieg, wahrscheinlich als Opfer von Vergeltungsanschlägen.
Mehr als 500 über 65-jährige Opfer bleiben vermisst, viele davon Serben.
Mehr als 850 vermisste Kosovo-Albaner sind bisher in Serbien selbst exhumiert worden.
(Übertragung aus dem Englischen: Alexander Künzle)
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch