Wenn Kameras ganze Verhaltensmuster «lesen»
Als erste Kantone haben Schwyz, Ob- und Nidwalden die Standorte ihrer Überwachungskameras im öffentlichen Raum publik gemacht. Datenschützer Bruno Baeriswyl lobt den Schritt. Sorgen bereitet ihm aber die nächste Generation von Videokameras.
Vandalismus, Wegwerfen von Abfall, tatsächliche oder vermeintliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit: Immer mehr Behörden in der Schweiz greifen zu Videoüberwachungskameras.
Damit hoffen sie, die Ruhe und Ordnung im öffentlichen Raum wieder herzustellen und verunsicherte Bürgerinnen und Bürger zu beruhigen.
Immer mehr Plätze, Einkaufsstrassen, Schulen, Bahnhöfe, Flughäfen, Abfallentsorgungsstellen, Unterführungen, Polizeigebäude, öffentliche Verkehrsmittel, Sportstadien, Toiletten und Parkhäuser werden mit dem stets aufmerksamen Kamera-Auge ausgestattet. Dieses registriert alle, ob unbescholtene Bürger oder Missetäter.
Eingriff in Persönlichkeitsrechte
Laut dem von Schwyz, Ob- und Nidwalden im Internet veröffentlichten Standortverzeichnis sind in den drei Kantonen im öffentlichen Raum total 90 Kameras im Einsatz. «Wir wollen Transparenz schaffen», begründete Jules Busslinger, der Datenschutzbeauftragte der drei Kantone, Anfang März den Schritt an die Öffentlichkeit.
Videoüberwachung stelle ein Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Bürger dar. Deshalb sollen diese laut Busslinger die Möglichkeit erhalten, entscheiden zu können, ob sie den überwachten Raum passieren oder umgehen wollten.
Ob die Praxis der drei Urschweizer Kantone wegweisend ist, muss sich erst weisen. Bisher ist einzig in Basel-Stadt vorgesehen, die Standorte der Überwachungskameras ebenfalls zu veröffentlichen.
Keine Zahlen
Zahlen darüber, mit wie vielen Kamera-Augen «Big Brother» die Menschen in der ganzen Schweiz überwacht, gebe es keine, sagt Bruno Baeriswyl, Datenschutzbeauftragter des Kantons Zürich und Präsident des Verbandes der schweizerischen Datenschutzbeauftragten, gegenüber swissinfo.ch.
Die Tendenz eines starken Anstiegs, die er in seinem Kanton beobachtet, dürfte aber für das ganze Land zutreffen. In den letzten zwei, drei Jahren habe die Zahl der Beratungen und Beurteilungen, die er Zürcher Behördenstellen in Bezug auf Videoüberwachung anbiete, stark zugenommen, berichtet Baeriswyl.
Will beispielsweise eine Schulbehörde oder eine Immobilienabteilung eine Videokamera zu Überwachungszwecken installieren, gelte das Prinzip der Verhältnismässigkeit. Erst wenn im Kampf gegen Vandalismus mildere Massnahmen wie bauliche Veränderungen oder einer andere Beleuchtung nichts gefruchtet hätten, kämen als Ultima Ratio Überwachungskameras in Frage, sagt Baeriswyl.
Frei und unbeobachtet
Grundsätzlich hätten die Bürger das Recht, sich im öffentlichen Raum frei und unbeobachtet zu bewegen, betont Baeriswyl. Werde öffentlicher Raum mit Videokameras überwacht, müsse dies transparent gemacht werden. «Für den Passanten, der auf der Strasse an einer Videokamera vorbei geht, muss klar ersichtlich sein, dass diese Örtlichkeit überwacht wird», sagt Baeriswyl.
Es gehöre ja zum Wesen der Videoüberwachung als präventive Massnahme, dass man eine solche auch klar deklariere.
Die Information geschieht mit Schildern oder schriftlichen Hinweisen. Betreffend Sujets, Farbe oder Grösse dieser Hinweise gibt es wie schon bei den gesetzlichen Grundlagen keine einheitlichen Richtlinien.
Schwyz, Ob- und Nidwalden wollen mit dem Schritt an die Öffentlichkeit auch Bürgerinnen und Bürger für die Frage sensibilisieren, ob Prävention nicht auch mit anderen Mitteln erreicht werden könnte.
Dieser Punkt liegt auch Bruno Baeriswyl am Herzen: «Aufgrund eines solchen Standortinventars können Bürgerinnen und Bürger abschätzen, ob der Grundsatz der Verhältnismässigkeit mit der Zahl der installierten Kameras gewahrt ist.»
Bewilligungspflichtig
Grundlage für das Standort-Inventar von Schwyz, Ob- und Nidwalden ist das Datenschutzgesetz, das die drei Kantone 2008 und 2009 gemeinsam revidiert hatten. Darin festgelegt ist eine Meldepflicht für Gemeinden, die eine Videoanlage zur Überwachung installieren wollen.
Aber nicht alle Gemeinden in der Schweiz, die ihre Bürger von Kameras überwachen lassen, verfügen über entsprechende Datenschutzgesetze. Sind solche aber vorhanden, ist es einmal mehr dem Schweizerischen Föderalismus geschuldet, wenn ein ausgesprochener reglementarischer Wildwuchs herrscht.
«Bitte Abfall sofort wieder aufheben!»
Was Bruno Baeriswyl mehr Sorgen bereitet, ist die technologische Entwicklung, die auch vor dem Bereich der Überwachung nicht Halt macht. Heute registriere eine Videokamera Bilder. In Zukunft werde sie aber auch versuchen, ein bestimmtes Verhalten zu eruieren, so der Experte.
«Wer beispielsweise auf einem Parkplatz direkt auf ein Auto zugeht, wird nicht näher erfasst. Wer aber hin- und hergeht, wird erfasst und allenfalls mit einer Datenbank abgeglichen, denn er könnte ein potenzieller Autodieb sein.» Schlimmstenfalls landet er im Verzeichnis möglicher oder tatsächlicher Autoknacker. Und das nur, weil seine Frau beim Shoppen eine Freundin getroffen hatte…
Dies ist aber keine «Big-Brother-Zukunftsvision, sondern bereits Realität. Zumindest in Grossbritannien. Dort sind laut Baeriswal bereits Kameras im Einsatz, die Menschen auf bestimmte Muster an sozialem Verhalten hin beobachten. Falle jemand aus dem Rahmen, indem er oder sie beispielsweise Abfall auf den Boden fallen lasse, löse das in der Überwachungszentrale Alarm aus. «Es geht soweit, dass die fehlbare Person über Lautsprecher angewiesen werden kann, den Abfall wieder aufzuheben», sagt er.
Es sind solche Szenarien, die dem Datenschützer Unbehagen bereiten. «Bei der sozialen Kontrolle sehe ich die grossen Risiken der Videoüberwachung», sagt Bruno Baeriswyl.
Keine Wunderwaffe
Selbst wenn sie immer komplexere soziale Verhaltensmuster identifizieren können: Wunderdinge sind von Videoüberwachungskameras im Kampf gegen Kriminalität keine zu erwarten, macht Bruno Baeriswyl klar.
«In England, das stark videoüberwacht ist, hat ihr Einsatz nicht zu einer Reduktion der Kriminalität geführt, sondern zu einer Verlagerung.» Dort, wo Kameras installiert seien, gebe es weniger Delikte, dafür häuften sie sich In Gebieten ohne Videoüberwachung.
Aufgrund der föderalistischen Struktur gibt es in der Schweiz eine Vielzahl unterschiedlicher Datenschutzgesetze auf den drei Stufen Bund, Kantone und Gemeinden.
Das Datenschutzgesetz des Bundes regelt den Datenschutz für die Bundesbehörden und für den privaten Bereich. Über die Einhaltung wacht der Eidgenössische Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragte.
Die Kantone haben für ihre Bereiche eigene kantonale Datenschutzgesetze. Müssen in einigen Kantonen Überwachungskameras bewilligt werden, kennen andere keine solche Pflicht. Kontrollinstanz sind die kantonalen Datenschutzbeauftragten.
Gemeinden, vor allem Städte, können ihrerseits eigene Datenschutzgesetze erlassen. In anderen wiederum ist die Videoüberwachung in Polizeigesetzen geregelt.
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