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Wenn man nicht einmal mehr frei reden darf

Rachid Khechana, Chefredaktor einer der wenigen Oppositionszeitungen in Tunesien. youtube

Der 18. internationale Tag der Pressefreiheit am Samstag zeigt, dass die Informationsvermittlung jene teuer zu stehen kommen kann, die kein Blatt vor den Mund nehmen. Wie zwei Presseleute in Tunesien, die derzeit im Hungerstreik sind.

“Tunesien gehört zu den etwa dreissig Ländern, die wir als Schurkenstaaten bezeichnen”, sagt Gérald Sapey, Präsident der Schweizer Sektion von Reporter ohne Grenzen. “Das sind Länder, in denen Journalisten verfolgt, bedroht und eingesperrt werden.”

Für Rachid Khechana, Chefredaktor des Wochenblatts Al-Mawquif, einer der drei Oppositionszeitungen in Tunesien, Korrespondent von swissinfo und stellvertretender Generalsekretär der demokratisch progressiven Partei ist dies der Alltag.

Am 10. Mai muss er zusammen mit seinem Geschäftsführer vor Gericht Auskunft über Verluste von Speiseöl-Produzenten in Höhe von mehreren hunderttausend Dollars geben. Sein Blatt hatte über mangelnde Qualität berichtet und gefordert, dass die Produkte analysiert werden.

Eine erneute Schikane für diese Publikation einer Partei, die den Mut hat, einen Kandidaten gegen Präsident Ben Ali aufstellen zu wollen. Dieser will nächstes Jahr zum fünften Mal für fünf Jahre gewählt werden.

Seit Jahresbeginn ist der Verkauf von Al-Mawquif an Kiosken verboten, ihre Bankkonten wurden blockiert. Vor einer Woche sind die beiden Männer nun in den Hungerstreik getreten; die übliche Art, in Tunesien für die Pressefreiheit zu demonstrieren.

swissinfo: Herr Khechana, Sie werden seit einiger Zeit härter angefasst. Warum jetzt? Haben Sie diesmal eine rote Linie überschritten?

Rachid Khechana: Überhaupt nicht. Es ist nur so, dass wir vor den Parlaments- und Präsidentenwahlen 2009 stehen. Und die Partei, die an der Macht ist, bereitet ihren Kongress vom August vor. Sie will keine Misstöne hören.

In den letzten Jahren haben wir uns etwas mehr Freiheiten herausnehmen können, dank dem Kampf der Zivilgesellschaft, der Journalisten, der Verteidiger der Menschenrechte und der Oppositionsparteien.

Der Informationsgipfel 2005 in Tunis zwang die Regierung zur einen oder anderen Lockerung. Und nun schwingt das Pendel wieder zurück.

swissinfo: Der damalige Bundespräsident Samuel Schmid ist in Tunis für die Menschenrechte eingestanden. Hat das etwas gebracht?

R.K.: Der Wandel geht nicht von einem einzelnen Anstoss aus, es sind eher kleine Schritte. Aber jedes Mal, wenn die tunesische Zivilgesellschaft im Ausland thematisiert wird, gibt das dem demokratischen Kampf einen Schub.

Wir erhalten viele Emails, Telefone und Briefe der Unterstützung für unseren Kampf in allgemeinen und den Hungerstreik im speziellen.

swissinfo: Ist Ihr Kampf auch jener der tunesischen Gesellschaft? Haben die Leute nicht dringendere Probleme als Demokratie und Pressefreiheit?

R.K.: Die Tunesier sind meist friedlich, doch sie können gewalttätig werden, wenn ihr Brot oder das ihrer Kinder in Gefahr ist. 1978 und 1984 kam es zu zwei “Brot-Aufständen”.

Mit den beiden gefälschten Wahlen von 1981 und 1989 haben die Leute den Glauben an den Wandel per Urne verloren. Das hält an bis heute.

Wir müssen sie vom Gegenteil überzeugen, denn es ist die einzige Möglichkeit, die wir haben. Nicht mehr daran zu glauben, ist sehr gefährlich, denn das öffnet dem Extremismus Tür und Tor.

swissinfo: Der Extremismus in Tunesien scheint aber im Vergleich zu Algerien oder Marokko viel weniger verbreitet.

R.K.: Die Regierung übertreibt die terroristische Bedrohung. Damit kann sie alles Mögliche begründen. Die Gefahr ist aber nicht abwesend: Letztes Jahr gab es Zusammenstösse mit einer bewaffneten tunesischen Gruppe aus Algerien. So etwas kann plötzlich ausarten.

Denn wenn die einfachen Bürger, namentlich die Jungen, nicht demokratische Parteien finden, die ihnen einen Rahmen geben und sie in den demokratischen Kampf führen, wenden sie sich Al Kaida und anderen extremistischen Bewegungen zu.

swissinfo: Welche Bedeutung hat der Tag der Pressefreiheit für Sie?

R.K.: Pressefreiheit ist eine Bedingung, nicht nur für die Demokratie sondern auch für all die Reformen, die dieses Land nötig hat.

Denn wenn die Zivilgesellschaft keine Plattform für ihre Stimme hat, bringen alle Aktionen der verschiedenen Verbände nichts.

swissinfo-Interview: Marc-André Miserez
(Übertragen aus dem Französischen: Christian Raaflaub)

“Es ist nicht akzeptabel – ich sage es unumwunden – dass es noch UNO-Mitglieder gibt, die ihre Bürger einsperren, nur weil sie die Behörden im Internet oder in der Presse kritisiert haben.”

Diese deutlichen Worte sagte der damalige Bundespräsident Samuel Schmid 2005 am Weltgipfel über die Informations-Gesellschaft (WSIS) in Tunis.

Und er doppelte noch gleich nach: “Ich erachte es als selbstverständlich, dass hier in Tunis, in diesen Mauern und auch ausserhalb, jeder in völliger Freiheit diskutieren kann.” Präsident Ben Ali war schockiert.

Denn die Schweiz erachtete es als wichtig, als Organisatorin des ersten Gipfels 2003 in Genf die Probleme beim Namen zu nennen. Was kein anderer Staat gewagt hatte.

Für den Fernsehsender Canal 7 war dies zu viel. Er unterbrach in diesem Moment die Übertragung der Eröffnungszeremonie brüsk. Der Internet-Zugang auf swissinfo, das vom Informationsgipfel berichtete und den Vorfall erwähnte, wurde von Tunesien aus gesperrt.

Dieser Zwischenfall kühlte die Beziehungen zwischen den beiden Ländern merklich ab. Der Botschafter in Bern wurde versetzt. Seit 2006 wird die tunesische Botschaft nur noch von einem Geschäftsführer geleitet.

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