«Ein Referendum kann auch dazu dienen, die Demokratie abzuschaffen»
Direkte Demokratie vs. repräsentative Demokratie: Daniel Cohn-Bendit sieht Argumente für und gegen beide Systeme. Der umstrittene deutsch-französische Politiker und ehemalige Sprecher der französischen Studentenrevolte vom Mai 1968 plädiert für ein geeintes Europa und warnt, dass ein Referendum auch das Ende der Demokratie bedeuten kann – so wie vielleicht demnächst in der Türkei.
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Die ersten Jahre meiner Karriere arbeitete ich in der Westschweizer Regionalpresse (Print und Radio). Im Jahr 2000 kam ich zu Schweizer Radio International, in der Zeit des Übergangs zu www.swissinfo.ch. Seither schreibe ich über unterschiedlichste Themen, von Politik über Wirtschaft zu Kultur und Wissenschaft; manchmal berichte ich auch in Form kurzer Videobeiträge.
Der in Afrika aufgewachsene Filmemacher aus Italien bezeichnet die Schweiz heute als seine Heimat. Carlo studierte Filmregie an der Nationalen Filmschule in Italien, danach arbeitete er als Dokumentarfilm-Redaktor sowie als Regisseur/Produzent in Berlin und Wien. Er gestaltet Multimedia-Beiträge zu fesselnden Erzählungen.
Zwei Konferenzen in Bern und Zürich vor vollen Zuschauerreihen: Daniel Cohn-Bendit weilte vergangene Woche in der Schweiz. Er kennt das Land gut, leitete er doch während fast zehn Jahren eine Literatursendung am deutschsprachigen Schweizer Fernsehen. Der 72-jährige Umweltschützer und leidenschaftliche Befürworter der Europäischen Union – die seiner Meinung nach zu den «Vereinigten Staaten von Europa» reformiert werden sollte – gab swissinfo.ch ein ausführliches Interview (auf Französisch), das Sie hier in der ganzen Länge schauen können.
Hier einige Auszüge:
Über die direkte Demokratie: «Bei einer direkten Demokratie mit Volksabstimmungen bräuchte es meiner Meinung nach ein Quorum der Mindeststimmbeteiligung sowie eine Definition in der Verfassung, worüber man abstimmen kann. Ich sage nicht, dass eine direkte Demokratie demokratischer oder weniger demokratisch ist. Die parlamentarische Demokratie hat ihre Mängel, viele Bürger haben den Eindruck, dass sie nichts zu sagen haben. Aber die direkte Demokratie funktioniert über Emotionen. Vergessen wir nicht die von Hitler anberaumte Volksabstimmung über das Staatsoberhaupt des Deutschen Reichs oder die kommende Abstimmung von Erdogan in der Türkei. Das Referendum ist auch eine Möglichkeit, die Demokratie abzuschaffen.»
Über Recep Tayyip Erdoğan (den er mehrmals getroffen hat): «Wir haben lange Zeit nicht realisiert, und ich als Letzter, dass er eine versteckte Agenda führte. Er brauchte die EU, um die Türkei aus den Fängen einer sehr autoritären Armee zu befreien. Und wir glaubten, dass die AKP eine zwar religiöse, aber demokratische Partei sei. Aber sobald er sich der Armee entledigt hatte, zeigte er sein wahres Gesicht. Es ist immer das Gleiche, man sollte sich vor Parteien mit religiöser Ausrichtung in Acht nehmen. Wenn eine Partei die Religion über die Demokratie stellt, ist das der Anfang des Endes.»
Zu Europa: «Alle Kritiken über die EU haben einen wahren Kern. Die EU ist ein Abbild unserer Gesellschaften. Die Frage ist, wie wir die vor uns liegenden Herausforderungen meistern, die Klimaschäden, die Globalisierung, die sozialen Ungerechtigkeiten… Wir schaffen das nicht, wenn wir national denken. In 20 bis 30 Jahren wird Frankreich in der globalisierten Welt so stark ins Gewicht fallen wie Andorra heute in Europa. Unsere Zivilisationsprojekte, unsere Hoffnungen auf sozialen Fortschritt und eine menschlichere Welt können wir nur über Europa verwirklichen. Die EU hat ihre Schwächen, also reformieren wir die EU, aber alles wird über Europa gehen.»
(Übertragung aus dem Französischen: Sibilla Bondolfi)
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