Mit Transparenz gegen Missbrauch der Volksrechte
Ist die direkte Demokratie am verlottern? Werden die Stimmbürger ihrer Volksrechte beraubt? Das Scheitern eines Referendums hat in der Schweiz heftige Debatten provoziert. Staatsrechtsprofessor René Rhinow beschwichtigt, fordert aber mehr Transparenz.
Das Schweizer Stimmvolk wird am 25. November nicht über die Steuerabkommen mit Deutschland, Grossbritannien und Österreich abstimmen. Die Referenden gegen die Staatsverträge sind gescheitert, weil ein paar Hundert Unterschriften fehlten.
Die Referendumsträger machen die Behörden für das Scheitern verantwortlich und haben Rekurs eingereicht. Sie werfen einigen Gemeinden vor, die beglaubigten Unterschriften nicht unverzüglich zurückgeschickt zu haben (vgl. rechte Spalte).
swissinfo.ch hat mit René Rhinow, dem ehemaligen FDP-Ständerat und Professor für Staats- und Verwaltungsrecht, über das Scheitern des Referendums und dessen Folgen für die direkte Demokratie gesprochen.
swissinfo.ch: Haben Sie Verständnis für die Empörung der Referendumsträger?
René Rhinow: Ich verstehe, dass es für jedes Komitee schwierig zu ertragen ist, wenn es zum Schluss kommt, dass die Initiative oder das Referendum deswegen gescheitert sei.
swissinfo.ch: Das Schlüsselwort in der Debatte heisst «unverzüglich». Im Bundesgesetz über die politischen Rechte steht nämlich, dass die Amtsstelle die Unterschriftslisten nach der Beglaubigung «unverzüglich den Absendern zurückgibt». Was ist damit gemeint?
R.R: Unverzüglich heisst, dass eine Gemeinde die Bescheinigung nicht unten auf die Pendenzen-Liste setzen darf, sondern diese förderlich an die Hand nehmen muss.
Das heisst aber nicht, dass vor Ablauf einer Referendumsfrist die ganze Gemeindetätigkeit deswegen still gelegt werden muss. Hier liegt ein Ermessensspielraum vor. Die Referendums-Komitees müssen wissen, dass sie nicht kurzfristig eine grosse Anzahl Unterschriften einreichen können.
swissinfo.ch: Weshalb wurden im Gesetz nicht präzise Fristen gesetzt, um solche Diskussionen zu vermeiden?
R.R.: Die Verhältnisse in den Gemeinden sind je nach Grösse sehr unterschiedlich, und der Anfall von Unterschriften auch. Der Bund hütet sich zudem zu Recht, den Gemeinden allzu strenge Vorschriften zu machen. Die Gemeinden sind in die Kantone eingebettet und diese begegnen jeglichem Bundeseinfluss auf die Gemeinden mit Argwohn.
Zudem hat es, soweit ich sehe, bisher kaum grössere Probleme gegeben.
swissinfo.ch: Beim jüngsten Referendum hat es nicht geklappt. Mehrere Gemeinden haben eine entscheidende Anzahl Unterschriften nicht rechtzeitig zurückgeschickt. Einige Exponenten verlangen deshalb eine Gesetzesrevision.
R.R.: Wenn ein Missgeschick geschieht, ist dies für mich noch nicht zwingend ein Anlass, sofort die Gesetzes-Maschinerie in Gang zu setzen und neue Regeln zu erlassen.
Aber wenn der politische Wille da ist, wäre es auch denkbar, dass der Bund im Rahmen des geltenden Gesetzes gewisse präzisierende Weisungen an die Gemeinden erlässt, wie diese mit den Unterschriften umzugehen haben.
swissinfo.ch: Bisher hat vor allem die Linke erfolgreich Initiativen lanciert und Referenden ergriffen. In den letzten Jahren greift aber auch die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei SVP regelmässig nach diesen Mitteln. Woran liegt das?
R.R. Die Volksrechte wurden früher vor allem von Kreisen benützt, die in der Regierung nicht vertreten waren oder im Parlament nicht der Mehrheit angehörten oder diesem überhaupt nicht angehörten. Sie versuchten, auf diesem Weg ihre Ziele durchzusetzen. Die Mitteparteien fanden ihre Mehrheiten im Parlament und brauchten deshalb diese Instrumente nicht.
Inzwischen hat sich diese Vorstellung stark verändert, weil insbesondere Volksinitiativen auch zum Marketing-Instrument der Parteien geworden sind.
Man setzt sie so ein, dass sie im Wahljahr zur Sammlung der eigenen Kräfte beitragen, unabhängig davon, ob sie letztlich Erfolg haben oder nicht. Oft enthalten sie fahrlässige Formulierungen, die populär sind, weil sie grossen Handlungswillen und Änderungsbedarf signalisieren, aber in der Anwendung grosse Probleme verursachen können.
Das ist eine bedenkliche Entwicklung, weil Volksinitiativen auf den Erlass neuen Verfassungsrechts ausgerichtet sind und nicht nur auf politische Postulate.
swissinfo.ch: Kürzlich hat es auch die Freisinnige Partei (FDP. Die Liberalen) versucht, mit der Initiative «Bürokratie-Stopp», und ist damit gescheitert. Weshalb?
R.R.: Es hat einmal am Inhalt gelegen. Bei dieser Initiative hat man sehr stark gespürt, dass es um Wahlkampf ging und nicht um konkretes politisches Handeln. Denn die Bürokratie muss im politischen Alltag bekämpft werden, nicht mit schön klingenden Verfassungsnormen. Und die Partei hat sich nicht von der Erfahrung leiten lassen, dass die FDP-Anhänger nicht die gewieftesten Unterschriften-Sammler sind.
Volksinitiativen sind auf Menschen angewiesen, die mit Begeisterung, Engagement und viel Wille Unterschriften sammeln. Dies trifft bei den Linken und Rechten eher zu, weil deren Anhängerschaft überzeugt ist, die Gesellschaft oder den Staat verändern zu müssen. Diese Bereitschaft ist in der FDP bedeutend weniger vorhanden. Vielleicht hat man dies unterschätzt und zulange zugewartet.
swissinfo.ch: Fast alle grossen Parteien haben für ihre Initiativen oder Referenden auch schon bezahlte Unterschriften-Sammler eingesetzt. Was halten Sie davon?
R.R.: Diese Methode können sich nicht alle leisten. Das ist eine problematische Entwicklung, weil damit die Spiesse nicht mehr gleich lang sind. Unterschriften sollte man sammeln und nicht sammeln lassen.
swissinfo.ch: Wie wollen Sie diese Entwicklung stoppen?
R.R.: Ich bin ein liberaler Mensch und zögere, wenn sofort nach Verboten gerufen wird. Die Transparenz ist hier wichtig.
Man sollte vielleicht allen Bürgern und Bürgerinnen empfehlen, die Unterschriftensammler zu fragen, ob sie dafür bezahlt werden – und bei einer positiven Antwort die Unterschrift verweigern, unabhängig vom Inhalt der Initiative!
swissinfo.ch: Transparenz verlangen linke Politiker seit langem auch für die Parteienfinanzierung, während bürgerliche Parteien bisher abblockten. Wo stehen Sie?
R.R.: Ich bin der Meinung, dass es bei der Parteienfinanzierung mehr Transparenz braucht. Ich sage es im Bewusstsein, dass jede Regelung Gefahr läuft, umgangen zu werden.
Aber ich warne davor, immer nur von Parteienfinanzierung zu sprechen, denn es geht vor allem um die Finanzierung der Abstimmungen. Die Parteien sind in der Schweiz vergleichsweise arme Gebilde. Viel Geld fliesst dort, wo es um Abstimmungen geht – gerade ausserhalb der Parteien.
Die Referenden gegen die Steuerabkommen mit Deutschland, Grossbritannien und Österreich sind gescheitert.
Den Referendumskomitees – federführend waren die rechtskonservative «Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz» (AUNS) und die Jungsozialisten (JUSO) – gelang es nicht, rechtzeitig je 50’000 Unterschriften einzureichen.
Sie machten dafür auch Verzögerungen bei einigen Gemeinden verantwortlich. Beispielsweise erhielten die Komitees aus dem Kanton Genf ein Paket mit 1500 Unterschriften kurz nach Ablauf der Sammelfrist – Grund war ein nicht angebrachter «Priority»-Post-Kleber.
Die Gegner der Steuerabkommen reichten die verspätet zurückgeschickten, aber rechtzeitig beglaubigten Unterschriften dennoch ein.
Nach Zahlen der Bundeskanzlei wären mit diesen Unterschriften die Referenden gegen die Verträge mit Deutschland und Grossbritannien zustande gekommen.
Die AUNS ziehz den Fall ans Bundesgericht weiter. Sicher ist jedoch, dass am 25. November nicht über die Abkommen abgestimmt wird.
Die Staatspolitische Kommission des Nationalrats (grosse Parlamentskammer) hat Mitte Oktober in einem Grundsatzentscheid beschlossen, dass Gemeinden künftig Unterschriften in einer bestimmten Frist beglaubigen müssen.
Die Verantwortung für das rechtzeitige Beglaubigen der Unterschriften soll nicht mehr bei den Initiativ- oder Referendumskomitees liegen, sondern bei den Gemeinden. Konkret sollen für das Sammeln der Unterschriften und für das Beglaubigen separate Fristen gelten.
Heute müssen die Unterschriften beglaubigt vor Ablauf der Sammelfrist bei der Bundeskanzlei eintreffen. Ansonsten zählen sie nicht. Das sei mit einer grossen Unsicherheit verbunden, da sich die Komitees auf die Gemeinden verlassen müssten, hält die Kommission fest.
(Quelle: sda)
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch