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Schweizer Parlamentswahlen – Frauenwelle im Anrollen

Die Parlamentswahlen in den Kantonen der letzten vier Jahre zeigten es: Die Politik in der Schweiz wird grüner – und künftig stärker von Frauen mitbestimmt. Nach jahrzehntelanger Untervertretung in den nationalen Gremien können sich Politikerinnen bei der Kandidatur für die Eidgenössischen Wahlen vom 20. Oktober endlich durchsetzen. Die Zahl der Kandidatinnen bricht bereits alle Rekorde.

Die Schweiz bezeichnet sich gern als Wiege der direkten Demokratie. Doch da war immer dieser Tolggen oder Fleck im Reinheft: Über ein Jahrhundert lang, nämlich volle 123 Jahre, galt die Demokratie in der Schweiz nur für die Hälfte der Menschen im Land. Die Frauen erhielten das Stimm- und Wahlrecht auf Bundesebene erst 1971.

Die Schweiz war damit eines der letzten Länder in Europa – und auch international eine Nachzüglerin. Es kam Jahre und Jahrzehnte, nachdem zahlreiche Länder in Afrika, Asien und Amerika den Frauen die politischen Rechte gewährten.

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«Bei den Wahlen im Herbst kommt es zum Linksrutsch»

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Die Sieger der kantonalen Wahlen werden auch die Schweizer Parlamentswahlen gewinnen, sagt Politikwissenschaftlerin Cloé Jans.

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Die Verspätung wirkt bis in die Schweiz von heute nach: Frauen sind in den politischen Gremien noch immer deutlich schlechter vertreten als die Männer. In den Kantonen beläuft sich der Frauenanteil in den Parlamenten auf knapp 30%. Im 200-köpfigen Nationalrat, der Grossen Kammer des Schweizer Parlaments, stagniert er bei 32%.

Im Ständerat, der 46 Sitze zählt, nahm er in den letzten zehn Jahren gar noch ab. Heute besetzen die Frauen in der kleinen Kammer gerade mal rund 15% der Sitze.

Signal aus den Kantonen: Es geht voran!

Das Ausmass dieser ungleichen Repräsentation könnte sich jedoch bei den Schweizer Parlamentswahlen vom 20. Oktober erstmals ändern. Das zumindest lassen die Resultate der letzten kantonalen Wahlen der Legislatur 2015 bis 2019 vermuten. Sie gingen in den Kantonen Zürich, Luzern, Baselland, Appenzell Ausserrhoden und im Tessin über die Bühne.

Bereits im Vorfeld der nationalen Wahlen vermeldeten alle Kantone einen Rekord: Noch nie hatten so viele Frauen für die Parlamente der 26 Kantone der Schweiz kandidiert. Fast 42% waren es in Zürich, fast 40% in Luzern und Baselland. Und überall wurden am Ende tatsächlich auch mehr Frauen gewählt.

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Frauenanteile in den politischen Gremien der Schweiz (2018)

National

Bundesrat (Regierung): 43%

Nationalrat: 32%

Ständerat: 15%

Kantonal

Regierungen: 25%

Parlamente: 29%

Städte

Regierungen: 27%

Parlamente: 32%

Kommunal (1775 berücksichtigte Gemeinden)

Exekutiven: 25%

Exekutivenohne Frauen: 15%

Quellen: Bundesamt für StatistikExterner Link und Andreas Ladner, Ada Amsellem, Die Vertretung der Frauen in kommunalen ExekutivenExterner Link, DeFacto, 25. Mai 2019

Im bevölkerungsstärksten Kanton Zürich schafften 73 Frauen den Einzug in den 180-köpfigen Kantonsrat. 2015 waren es noch 61 gewesen. Damit beträgt ihr Anteil neu fast 40% – Schweizer Rekord. In der Regierung stehen neu vier Frauen drei Männern gegenüber – zum zweiten Mal in der Geschichte ist der Kanton Zürich weiblich dominiert.

In Luzern erhöhte sich der Frauenanteil von 29% auf rund 35%, in Baselland von 36% auf knapp 39% und in Appenzell Ausserrhoden von 25% auf 34%.

Den Anschluss geschafft hat der Kanton Tessin, wo die Frauen seit Jahren am schlechtesten vertreten waren: Die Frauen erhöhten dort im Parlament ihren Anteil von 24% auf 34%.

So nicht erwartet

«Einen solch durchgehenden Anstieg der Frauen hätte ich nicht erwartet”, sagt Politikwissenschaftlerin Cloé Jans vom Forschungsinstitut gfs.bern. Man habe in erster Linie mit einem Plus der grünen Parteien gerechnet wegen des stark debattierten Klimathemas, zu dem es ja auch gekommen ist. «Aber die Frauen-Welle sorgt womöglich für den nachhaltigeren Umbruch in der politischen Landschaft. Es scheint, als gäre in der Bevölkerung ein Bedürfnis nach Veränderung, dem nun Ausdruck verliehen wurde.»

Die Hintergründe ortet Cloé Jans, die bei gfs.bern das operative Geschäft leitet, darin, dass das die Gleichstellung der Geschlechter international wie national in den letzten Jahren zu einem zentralen Thema geworden ist. Ein neuer, popkultureller Feminismus hat sich in gebildet. Die Luxusmodemarke Dior beispielsweise produzierte ein T-Shirt mit der Aufschrift «We should all be feminists».

Als solche bezeichneten sich auch Popstars wie Beyoncé oder die Schauspielerin Emma Watson. Um gegen die Wahl von US-Präsident Donald Trump und seine sexistischen Äusserungen zu demonstrieren, gingen Frauen rund um den Globus auf die Strasse. Auch in der Schweiz fanden Women’s Marches statt.

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Als Motor wirkte auch die Kampagne #metoo, in deren Rahmen Frauen aus aller Welt ihre Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt von Männern anprangerten. Der Hashtag steht für ein neues Bewusstsein der Frauen, ihre Stimme zu erheben und sich zu wehren, statt Unrecht stumm zu erleiden.

Das Bewusstsein für Gleichstellung ist auch der Schweiz gewachsen. Das hat sich im letzten Dezember bei den jüngsten Wahlen in die Landesregierung gezeigt. Damals ging es um die Wahl von zwei neuen Mitgliedern in den siebenköpfigen Bundesrat.

Es galt im öffentlichen Diskurs als gesetzt, dass es mindestens eine Frau, wenn nicht zwei Frauen sein müssen. Und es funktionierte: Das Parlament wählte Viola Amherd und Karin Keller-Sutter mit Glanzresultaten.

Parteien lange desinteressiert an Frauen

Fast 50 Jahre sind es her, dass Frauen in der Schweiz politisch gleichgestellt sind. Weshalb aber geht das Land, das in internationalen Demokratie-Vergleichen stets Spitzenränge belegt, erst jetzt auf eine politische Geschlechterparität zu?

Das Buch zu den Parteien und den Frauen

Fabienne Amlinger: Im Vorzimmer der Macht?Externer Link Die Frauenorganisationen der SPS, FDP und CVP, 1971–1995. Chronos-Verlag. 2017. 416 Seiten, ca. 60 Franken.

Eine Antwort liefert Fabienne Amlinger. Die Historikerin hat eine Dissertation «Im Vorzimmer der Macht?» verfasst (Box). Darin untersuchte sie die Frauenorganisationen innerhalb der politischen Parteien, die in der Schweizer Regierung vertreten sind. Es sind dies die Sozialdemokratische Partei (SP), die Freisinnig-Demokratische Partei (FDP.Die Liberalen) und der Christlichdemokratische Volkspartei (CVP) zwischen 1971 und 1995.

Nicht dabei war die Schweizerische Volkspartei (SVP): Die grösste Partei der Schweiz verwehrte der Forscherin den Zugang zum Partei-Archiv.

Das Bild, das sich Amlinger bei den drei Parteien zeigte, war uniform: Diese brachten den Frauen schlicht wenig bis gar kein Interesse entgegen. Lange wurden sie auch kaum in den eigentlichen Parteibetrieb eingebunden.

Das Demokratiedefizit blieb also trotz der politischen Gleichstellung lange bestehen. Zur kollektiven und öffentlichen Entrüstung kam es erst, als das Parlament 1993 bei einer Ersatzwahl in den Bundesrat die sozialdemokratische Kandidatin Christiane Brunner desavouiert und an ihrer Stelle einen Mann in die Schweizer Regierung gewählt hatte. Eine klare Männerdemonstration – und das fast ein Vierteljahrhundert nach der Einführung des Frauenstimmrechts.

«Parteikultur weiterhin männlich geprägt»

Politologin Cloé Jans sagt: «Bis heute tun sich gerade bürgerliche Parteien eher schwer, Frauen aktiv einzubinden.» Es heisse zwar vielerorts, dass die Türen offen stünden. Wie etwa Ende März bei der SVP Zürich, nachdem diese die Kantonswahlen haushoch an die Grünen verloren hatten «Die Parteikultur der SVP ist jedoch weiterhin stark durch Männer geprägt. Das macht sie für viele Frauen wenig attraktiv», sagt Jans.

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Traditionell seien es eher die linken Parteien, die sich aktiv um Frauen bemühten – und ihnen auch zu guten Plätzen auf ihren Wahllisten verhelfen würden. Eine Position hoch oben auf der Liste der Kandidierenden hat sich in der Praxis als fast zwingendes Erfolgskriterium herausgestellt.

Die Grünen stellen beispielsweise seit längerem sogenannte Zebra-Listen zusammen, auf denen Frauen und Männer abwechselnd aufgeführt sind. Es überrascht also nicht, dass die Frauen- und die Klima-Welle Hand in Hand kamen.

Dass die Themen Gleichstellung und Klima nun in der Öffentlichkeit so stark präsent sind, hat gemäss Cloé Jans allerdings weniger mit Parteipolitik als mit dem gestiegenen Druck aus der Zivilgesellschaft zu tun. «Die etablierte Politik hat es nicht auf die Reihe gekriegt, also kommt der Druck jetzt von unten.»

Druck, den auch «Helvetia ruft» (www.helvetia-ruft.chExterner Link) aufgebaut hat. Eine Aktion, die Alliance F, der grösste Frauendachverband, und Operation Libero im letzten Herbst gemeinsam gestartet haben. Sie motiviert Frauen, bei kantonalen und nationalen Wahlen zu kandidieren und führt Gespräche mit Kantonalsektionen der Parteien, dass diese den Frauen chancenreiche Plätze einräumen.

Für die Parlamentswahlen vom 20. Oktober prognostiziert Cloé Jans: «Für Parteien, die sich nicht um Gleichstellungsfragen kümmern, wird es schwierig sein». Die Zahl der Kandidatinnen bricht bereits Rekorde: Ihr Anteil stieg auf 42% gegenüber 36% bei der letzten Wahlen 2015.


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