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Hobby: Präsident

Bild in schwarz/weiss von Schlosswil aus der Luft
Auf dieser undatierten Aufnahme war die Welt von Schlosswil noch in Ordnung resp. das Dorf noch eine eigenständige Gemeinde. Mit der Fusion 2018 mit Grosshöchstetten ist dies Geschichte. swissinfo.ch

Politik als Nebenbeschäftigung: Das ist die Idee des Milizsystems. Tausende von Amtsträgern in der Schweiz gehen einer normalen beruflichen Beschäftigung nach und politisieren in ihrer Freizeit oder im Nebenamt. Das Milizsystem hält die Grenze zwischen Politik und Stimmbürgern durchlässig. Doch in der Praxis stösst es an seine Grenzen. Unser Start ins Jahr der Schweizer MilizarbeitExterner Link.

Ein «président normal» wolle er sein, hatte François Hollande vor seiner Wahl zum französischen Staatsoberhaupt 2012 angekündigt.

Nach Jahren unter dem als abgehoben geltenden Nicolas Sarkozy kam diese Aussicht bei den französischen Wählerinnen und Wählern gut an.

Dabei war Hollande seinem Kontrahenten ähnlicher, als er vorgab: Beide hatten in Paris an der französischen Elite-Universität Sciences Po studiert, beide waren seit Jahrzehnten in der Politik aktiv und kannten die Arbeit in der Privatwirtschaft nur aus der Distanz.

Dieser Beitrag ist Teil von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch. Hier äussern nebst internen auch aussenstehende Autoren ihre Ansichten. Ihre Positionen müssen sich nicht mit jener von swissinfo.ch decken.

Auch ihre Karrieren verliefen ähnlich: Nach seiner Wahl gingen die Beliebtheitswerte Hollandes nach wenigen Monaten in den Keller, wie bei seinem Vorgänger. Und wie Sarkozy musste auch Hollande nach einer Amtszeit abdanken.

Ob dasselbe Schicksal auch Emmanuel Macron blüht? Der aktuelle Präsident hat wie seine Vorgänger eine Elite-Uni als klassische Kaderschmiede absolviert. Und er sieht sich mit den «Gilets jaunes» konfrontiert, der langanhaltendsten Bürgerprotest-Bewegung der der letzten Jahrzehnte.

Zonenplan statt Feierabendbier mit Kollegen

Auf Markus Geist passt die Bezeichnung «normaler Präsident» jedenfalls um einiges besser als auf den ehemaligen französischen Staatschef. Tagsüber arbeitet Geist als Manager bei den Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) in Bern. Nach Feierabend fährt er nach Hause, um Zonenpläne zu studieren oder Gemeindeversammlungen zu leiten.

Geist ist Vize-Gemeindepräsident von Grosshöchstetten in der Nähe von Bern. Damit gehört er zu den Tausenden von Schweizern – und auch kleinen Minderheit von Schweizerinnen – die neben dem Beruf noch ein politisches Amt auf Ebene der Lokalpolitik ausüben. Eigentlich war Geist Gemeindepräsident von Schlosswil gewesen. Doch diese Gemeinde gibt es nicht mehr – sie hat auf Anfang 2018 mit der grösseren Nachbargemeinde fusioniert.

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Die Kombination von Beruf und paralleler Lokalpolitik ist der Kern des Schweizer Milizsystems. Dieses bildet die Grundlage der Schweizer Politik nicht nur auf kommunaler, sondern auch auf kantonaler und nationaler Ebene. 

Zumindest in der Theorie. Denn am Eingang des Emmentals zeigt sich schonungslos, wo die Probleme und Grenzen des aktuellen Milizsystems liegen. In Schlosswil wurde es zunehmend schwierig, genügend Leute zu finden, um die Ämter in der Gemeinde zu besetzen, sagt Geist.

Damit war die kleine Gemeinde alles andere als ein Einzelfall. Geist selbst war vor zehn Jahren angefragt worden, ob er für den Gemeinderat kandidieren wolle, und er hatte zugesagt.

Entbehrungsreicher Job 

Doch nicht alle haben Zeit und Lust, sich abends nach getaner Arbeit mit Einsprachen gegen Baubewilligungen oder Schulordnungen herumzuschlagen.

Jahr der Milizarbeit

Mit dem «Jahr der Milizarbeit 2019» will der Dachverband der 2212 Gemeinden in der Schweiz die Krise des Schweizerischen Milizsystems in den Fokus der Öffentlichkeit rücken. Von Januar bis Dezember finden Veranstaltungen in der ganzen Schweiz statt. Die Debatten zwischen Fachleuten und dem Publikum soll Impulse für dringend notwendige Reformen liefern. 

Diese sind umso wichtiger, als das Milizsystem als ein Grundpfeiler des Erfolgsmodells Schweiz gilt. Geplant sind auch mehrere Publikationen. So erscheint im Mai das Buch «Milizarbeit in der Schweiz». swissinfo ist Medienpartner des Miliz-Jahres und wird regelmässig über das Thema berichten.

Dies war mit ein Grund, warum das 600 Einwohner zählende Dorf mit seinem schönen Schloss in die grössere Nachbargemeinde integriert wurde. Aufgrund der Gemeindefusionen ist die Zahl der Gemeinden in der Schweiz von rund 3100 im Jahr 1950 auf 2212 gesunken (Stand 1. Januar 2019, siehe Box). Der Schweizerische Gemeindeverband hat deshalb 2019 zum Jahr der Schweizer Milizarbeit erklärt.

Verantwortung, auf viele Schultern verteilt

Der griechische Philosoph Platon träumte von einem Staat, der von Philosophen regiert wird. Nur jene, die sich ihr ganzes Leben damit beschäftigen, was gut, richtig und vernünftig ist, sind in der Lage, die Geschicke des Landes zu lenken, so die Idee.

Platon hätte keine Freude am Schweizer Milizsystem, das seinem Ideal diametral widerspricht: Hier sollen nicht ein paar auserwählte Philosophenkönige über Gesetze entscheiden, sondern Menschen aus allen Schichten und mit unterschiedlichen Hintergründen.

Die Idee hinter dem Milizsystem ist ähnlich wie jene der direkten Demokratie: Die Macht wird auf viele Schultern verteilt.

Und sie sollen dabei weiter in ihrem angestammten Beruf verwurzelt bleiben. Das soll der Entstehung einer «politischen Klasse» entgegenwirken, wie sie die eingangs erwähnten Präsidenten Frankreichs repräsentieren.

Im Gegenteil: Die Grenze zwischen den Politikern und der Bevölkerung soll durchlässig bleiben. Die Idee hinter dem Milizsystem ist ähnlich wie jene der direkten Demokratie: Die Macht wird auf viele Schultern verteilt, die Verantwortung liegt nicht bei wenigen Berufenen, sondern wird vielen einzelnen Bürgern übertragen.

Die Krise hat sich in den letzten rund 30 Jahren laufend verschärft. In der letzten Befragung von Gemeindeschreibern, die regelmässig in der Schweiz durchgeführt wird, gab nicht weniger als die Hälfte an, es sei schwierig oder sehr schwierig, die Ämter der Gemeinde zu besetzen.

Dramatisches Gemeindesterben

Bei ihrer Gründung 1848 zählte die Schweiz 3205 Gemeinden. Diese Zahl blieb bis 1990 praktisch unverändert.

Anfang 2019 existierten noch 2212 Gemeinden. Innerhalb der letzten knapp 30 Jahre sind also fast 800 Gemeinden oder über ein Viertel verschwunden.

Der massive Rückgang ist die Folge von Gemeindefusionen. Solche werden propagiert, um die Finanz- und Personalprobleme auf Ebene der Lokaldemokratie zu beheben.

Gemeindefusionen haben aber ihren Preis, wie aktuelle Forschungen zeigen. Einer davon: Die Talfahrt der politischen Beteiligung, die seit 30 Jahren anhält, wird dadurch noch verstärkt.

Ein Grund ist die schwindende Attraktivität der Gemeindepolitik: Viele kommunale Amtsträger beschweren sich darüber, dass die Gemeinden immer mehr zu reinen Ausführungsorganen der Kantone und des Bundes degradiert werden. Die Ortsbehörden dagegen hätten kaum noch eigenen Gestaltungsspielraum.

Kein Wunder, hält sich das Interesse, hier mitzuwirken, bei vielen in Grenzen, zumal die Entschädigung meist bescheiden ist. Und die Mitbürger bei umstrittenen Geschäften oft nicht mit lautstarker Kritik oder gar Beschimpfungen hinter dem Berg halten.

Politiker, die sich selbst beschäftigen

Doch nicht nur in den Gemeinden steht das Milizprinzip vor Herausforderungen, sondern auch auf kantonaler und nationaler Ebene. Im National- und Ständerat unter der Bundeshauskuppel in Bern ist das Milizsystem längst nur noch ein Mythos. 

Im National- und Ständerat unter der Bundeshauskuppel in Bern ist das Milizsystem längst nur noch ein Mythos.

­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­Wer im Schweizer Parlament sein oder ihr Amt gewissenhaft ausübt, die Dossiers genau studiert und in Kommissionen aktiv ist, kann dies schlicht nicht mehr mit einer normalen Anstellung vereinbaren.

Ein Grund für die steigende Arbeitslast ist die wachsende Dichte internationaler Regeln, die sich infolge der Globalisierung auf die nationale Politik auswirken.

Zudem hat die Grösse und damit die Aktivität der Verwaltung zugenommen. Verantwortlich sind aber auch die Politiker selber: Die Zahl der parlamentarischen Vorstösse steigt Jahr für Jahr an – so schaffen sich die Milizpolitiker ständig neue Arbeit. Eine Befragung von National- und Ständeräten ergab jüngst, dass diese im Schnitt etwa 80 Prozent ihrer Arbeitszeit in die Politik investieren.

Flexibilität als Selektionsmerkmal

Wer daneben noch einer Arbeit nachgeht, tut dies in der Regel in einem Beruf, der sehr flexible Arbeitszeiten zulässt. Anwälte und Unternehmer sind in National- und Ständerat übervertreten. Andere arbeiten für einen Verband, eine Partei oder eine Gewerkschaft und verbinden so ihr politisches Amt mit dem Beruf.

Das muss nicht per se schlecht sein. Möglicherweise macht es die Komplexität politischer Fragen heute unerlässlich, dass Parlamentarier faktisch ihre ganze Arbeitszeit in die Politik investieren.

Doch die Professionalisierung hat ihren Preis. Berufspolitiker haben in ihrem Alltag vorwiegend mit anderen Politikern zu tun, mit denen sie Gesetze ausarbeiten. Mit den Menschen, welche die Auswirkungen der Gesetze in ihrem Alltag spüren, haben sie dagegen weniger Kontakt.

Politiker sind zudem selbst weniger von den Konsequenzen ihrer eigenen politischen Arbeit betroffen. Dies hat zur Folge, dass die in der Theorie durchlässige Grenze zwischen Politikern und Stimmbürgern zunehmend schärfer wird.

Serie «Toolbox»

Die Schweiz ist eine Kombination von indirekter und direkter Demokratie. Letztere ist so stark ausgebaut wie in keinem anderen Land. Dies zeigt sich u. a. in mehr als 620 nationalen Abstimmungen – «Weltrekord».

In einer #DearDemocracy-Serie beleuchtet Lukas Leuzinger die wichtigsten und grundlegenden Instrumente, Mechanismen und Prozesse der direkten Demokratie in der Schweiz.

Der Autor studierte Politikwissenschaften an der Universität Zürich. Heutet arbeitet er als Journalist und ist Mit-Betreiber des Politblogs «Napoleon’s Nightmare».

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