Schweiz braucht kein Verfassungsgericht
Der Schweiz werden regelmässig Bestnoten für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ausgestellt. Irritierend für das Ausland ist aber die fehlende Verfassungsgerichtsbarkeit. Der ehemalige Bundesgerichtspräsident Martin Schubarth erklärt, warum in der Schweiz keine Richter die Vereinbarkeit von Bundesgesetzen mit der Verfassung prüfen – und warum dies auch in Zukunft so bleiben soll.
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Soll das Bundesgericht überprüfen können, ob Bundesgesetze mit der Bundesverfassung im Einklang stehen? Darauf antwortet die Bundesverfassung mit einem Nein. In der Schweiz gibt es also anders als in vielen europäischen Staaten keine umfassende Verfassungsgerichtsbarkeit, die es einem Gericht erlaubt, vom demokratischen Gesetzgeber beschlossene Gesetze unter Rückgriff auf die Verfassung zu überprüfen, die Gesetze gegebenenfalls zu kassieren und dem Gesetzgeber vorzuschreiben, wie er zu legiferieren hat.
Diese seit der Gründung des Bundesstaates im Jahre 1848 bestehende Regelung wurde immer wieder in Frage gestellt, doch wurden alle Reformvorschläge letztlich abgelehnt – zuletzt vor vier Jahren nach einer längeren parlamentarischen Debatte. Dies mag insbesondere im Ausland überraschen, da die Mehrheit der europäischen Staaten über eine umfassende Verfassungsgerichtsbarkeit verfügt.
Vertrauen in Gesetzgeber
Allerdings fällt auf, dass Länder mit einer kontinuierlichen Entwicklung wie die Niederlande, Grossbritannien und die skandinavischen Staaten keine oder nur eine sehr eingeschränkte Verfassungsgerichtsbarkeit kennen. Weshalb? Aus Vertrauen in den demokratischen Gesetzgeber, das dieser in den genannten Ländern stets erfüllt hat. Gleiches finden wir in der Schweiz. Das Vertrauen in den demokratischen Gesetzgeber ist so stark, dass man es bis heute für unangebracht hält, ihn unter die Kontrolle eines kleinen Richtergremiums zu stellen.
Verfassungsgerichtsbarkeit finden wir dagegen in Ländern, welche die Erfahrung der Diktatur und die damit verbundene Rechtlosigkeit erleben mussten, wie Deutschland, Italien, Spanien und Portugal. Verfassungsgerichtsbarkeit wurde in diesen Ländern eingeführt als Reaktion auf das Versagen des demokratischen Gesetzgebers und den damit verbundenen Rechtsverlust. Aus rechtsvergleichender und politologischer Sicht ist deshalb kein Grund ersichtlich für einen Systemwechsel in der Schweiz.
Was steht in der Verfassung?
Das Argument, die Justiz habe den Vorrang der Verfassung sicherzustellen, beruht auf der etwas naiven und wenig reflektierten Annahme, es sei klar, was in der Verfassung stehe. Ergibt sich aus dem Gleichheitssatz das Gebot eines einheitlichen Rentenalters? Oder eine Wehrpflicht für beide Geschlechter? Oder ein Anspruch auf gleiche Versicherungsprämien für Mann und Frau? Die Antwort darauf findet sich nicht in der Verfassung. Deshalb ist es legitim, die Antwort dem demokratischen Gesetzgeber zu überlassen und nicht einem kleinen Richtergremium.
Die Problematik der Verfassungsgerichtsbarkeit wird deutlich, wenn es um die Beantwortung von gesellschaftspolitisch umstrittenen Fragen wie die Schwangerschaftsunterbrechung geht. Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat die Fristenlösung als verfassungswidrig kassiert, obwohl die deutsche Verfassung zu dieser Frage schweigt. In der Schweiz hat das Volk der Fristenlösung zugestimmt – soll ein solcher Entscheid von der Justiz überprüft werden können? Die Antwort darauf ist nein.
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Richterentscheide sind beliebig
Von Interesse ist, dass das französische und das österreichische Verfassungsgericht die Fristenlösung geschützt haben. Umgekehrt hat der amerikanische Supreme Court aus der Verfassung ein Recht auf Abtreibung hergeleitet. Vier Verfassungsgerichte haben also bei inhaltlich weitgehend gleicher Verfassungsordnung drei konträre Urteile gesprochen; das zeigt, wie arbiträr Urteile von Verfassungsgerichten sein können. Schweden hat übrigens unter dem Eindruck des deutschen Urteils die Einführung einer umfassenden Verfassungsgerichtsbarkeit abgelehnt; Irland hat aus der Angst, sein Supreme Court könne dem amerikanischen Beispiel folgen, ein Abtreibungsverbot in seine Verfassung aufgenommen.
Diese Beispiele zeigen, dass es in der Regel um die Konkretisierung der Verfassung geht, die häufig offen ist für verschiedene Lösungen. Diese Konkretisierung hat eine politische Komponente und obliegt deshalb dem Gesetzgeber und nicht einem Richtergremium. Das wird auch bei der jüngsten Diskussion um die Konkretisierung der Masseneinwanderungsinitiative deutlich.
Aus welchen Gründen braucht die Schweiz Ihrer Meinung nach eine Verfassungsgerichtsbarkeit? Und welche Argumente sprechen dagegen? Diskutieren Sie mit uns in den Kommentaren!
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