Taiwans Kampf gegen die digitale Desinformation
Die Bürger:innen des Inselstaats wehren sich – unterstützt von der Regierung – mit Erfolg gegen Fake-News. Doch wenn sie direktdemokratisch mitgestalten wollen, blockt die Politik, wie sich beim Besuch von SWI swissinfo.ch in Taipeh zeigt.
«Ein Marinesoldat der chinesischen Volksbefreiungsarmee überwacht mit einem Feldstecher den Schiffsverkehr vor der Ostküste der Insel Taiwan», heisst es unter dem Pressebild, das im Sommer 2022 von zahlreichen Medien in der ganzen Welt veröffentlicht wurde.
Einige Medien haben es fälschlicherweise der Associated PressExterner Link (AP) zugeordnet, weil diese das Bild von der Urheberin, der chinesischen Agentur Xinhua, mit Quellenangabe übernommen hat.
Die Agentur AP vermeldet einige Tage später: «Wir können kein Problem mit diesem Bild erkennen, können es aber auch nicht authentisieren, denn es ist nicht von uns gemacht worden.»
Die staatliche chinesische Nachrichtenagentur Xinhua publizierte das Bild zeitgleich mit dem Abschluss eines Taiwan-Besuchs der damaligen US-amerikanischen Parlamentsvorsitzenden Nancy Pelosi.
Pressebild war eine Fotomontage
Doch: «Es war eine Fotomontage», sagt Eve Chiu. Chiu leitet das Taiwan Fact Checking Center, eine vor sechs Jahren von Medienschaffenden gegründeten Nichtregierungsorganisation zur Entlarvung von Desinformation.
Dort analysieren mehrere Dutzend Journalist:innen rund um die Uhr die in Taiwan publizierten Agenturmeldungen und Posts auf Drittplattformen. Sie nehmen Meldungen von Nutzer:innen entgegen und senden Warnmeldungen an öffentliche Stellen und Medienunternehmen – wenn sich zeigt, dass es sich tatsächlich um Desinformation handelt.
Mit Erfolg, wie das Beispiel des Xinhua-Bilds verdeutlicht. «Dabei konnten wir anhand von Bild- und Sonnenwinkelanalysen zweifelsfrei nachweisen, dass das Bild mit dem chinesischen Marinesoldaten vor der taiwanesischen Ostküste manipuliert worden war», betont Eve Chiu.
Im Unterschied zu Taiwan stehen in der Schweiz die Wahrnehmung und die Arbeit rund um Desinformation erst in den Anfängen. Laut einem neuen Bericht des Forschungszentrums Öffentlichkeit und GesellschaftExterner Link an der Universität Zürich habe «Desinformation in der Schweiz bislang (noch) keine grösseren Probleme verursacht. Die jüngsten Entwicklungen zeigen aber, dass sich das jederzeit ändern kann.»
Eine Studie des Bundesamts für Statistik vom Herbst 2023 zeigt denn auch, dass das Bewusstsein für die Problematik der Desinformation in der Schweizer Bevölkerung in den letzten zwei Jahren zugenommen hat.
Mit Blick auf die internationalen Erfahrungen – unter anderem in Taiwan – legt das Fög den Behörden jedoch die Prüfung eines umfassenden Massnahmenkatalogs nahe: Dazu gehören die «Auswirkungen der Europäischen Regelungen», «Transparenzvorgaben» und eine «Kennzeichnungspflicht für automatisierte Accounts», sogenannte Bots, wie sie im Falle Taiwans bereits sehr aktiv sind.
Das Taiwan Fact Checking Center ist nur eine von mehreren Dutzend professionellen Organisationen, die sich in Taiwan mit der verbreiteten Desinformation im digitalen Raum beschäftigt. Sie haben viel zu tun. Laut einer vergleichenden Studie des globalen Forschernetzwerkes Varieties of Democracy, mit Sitz im schwedischen Göteborg, ist Taiwan heute das «am stärksten von ausländischen Desinformationsanstrengungen betroffene Land».
Mehr
Explainer: Warum ist Taiwan so wichtig für die Welt?
Der Grund dafür ist in der Geschichte und der Geopolitik zu finden: Die benachbarte Volksrepublik China erhebt seit ihrer Gründung 1949 Anspruch auf Taiwan.
Hinzu kommt die wirtschaftliche Bedeutung der sechszehntgrössten Handelsnation, welche – so drückte es die Zürcher Sinologin Simona Grano im Gespräch mit SWI swissinfo.ch Anfang Jahr aus – «im Zentrum der globalen Versorgungsketten und Seehandelsrouten liegt». Auch in dieser Beziehung steht das Land in direkter Konkurrenz zu China.
Flut von Deepfake-Videos im Wahlkampf
Das war in den letzten Monaten einmal mehr sehr spürbar: Im Zusammenhang mit den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Januar und dem schwersten Erdbeben auf der Insel seit 25 Jahren im April sei die Insel «von automatisierten Bots in den sozialen Medien und sogenannten Deepfakevideos geflutet worden», sagt Ethan Tu, Gründer der Taiwan AI Labs.
Er und sein Team hätten «hunderte von automatisierten Accounts und tausende von manipulierten Videos identifiziert und gemeldet», sagt der ehemalige Microsoft- und ChatGPT-Entwickler.
Am Morgen des 3. April erschütterte ein Erdbeben der Stärke 7.4. den Osten Taiwans. Es war das schwerste Beben seit dem Herbst 1999, als ein Beben der Stärke 7.7 weitreichende Zerstörungen und Tausende Todesopfer zur Folge hatte. Nicht zuletzt dank verstärkten Bauvorschriften und ausgebauten digitalen Warnsystemen gab es diesmal viel weniger Schäden an Infrastruktur und Gebäuden. Ingesamt mussten 13 Todesopfer beklagt werden.
Trotzdem löste die Naturkatastrophe in den sozialen Medien eine Vielzahl von Falschinformationen aus, die darauf angelegt waren, “das Vertrauen in die Behörden und Rettungskräfte zu untergraben“, wie das Taiwan Fact Checking Center (TFCC) in einer AnalyseExterner Link festhält. Zu den Falschmeldungen, die es auch in die traditionellen Medien schafften, gehörte ein manipuliertes Video zur Zerstörung eines ikonischen Felsens auf einer Insel an der Ostküste sowie Falschzuordnungen von Erdbeben-Bildern aus anderen Teilen der Welt.
Die TFCC-Analyse macht weiter deutlich, dass sich die Desinformationsversuche im In- und Ausland unterscheiden, da “in Taiwan das Publikum allzu offensichtliche Falschmeldungen schnell durchschaut“. Als besonderen Service entwickelte TFCC im Anschluss an das Erdbeben eine BildverifizierungskarteExterner Link, anhand der publizierte Fotos aus dem Erdbebengebiet auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft werden konnten.
Mit Künstlicher Intelligenz sei es den Taiwan AI Labs gemäss Tu gelungen, die Narrative dieser Accounts zu gruppieren. Das Resultat: «Sie repräsentieren grossenteils die Linie der chinesischen Staatsmedien und unterstreichen die Stärke der chinesischen Streitkräfte.» Deshalb mache es wenig Sinn, so Tu, diese KI-manipulierten Inhalte auf ihren Inhalt zu prüfen: «Stattdessen müssen wir das schiere Ausmass der Desinformation entlarven.»
Das ist dem Inselstaat im Westpazifik gut gelungen: So nimmt Taiwan laut dem neusten Jahresbericht der Bertelsmann-Stiftung zum Entwicklungsstand von Demokratie und Marktwirtschaft den ersten von 137 Plätzen ein.
Mehr
Schüren die Sozialen Medien Populismus und Desinformation in der Schweiz so stark wie in den USA?
Was die Schweiz von Taiwan lernen kann
«Wir können viel von Taiwan lernen», betont David Vogler, Vizedirektor des Forschungszentrums Öffentlichkeit und Gesellschaft (Fög) an der Universität Zürich. Er ist Mitherausgeber eines neuen Berichts zur «Gouvernanz von Desinformation in digitalisierten Öffentlichkeiten».
Während in Europa und in den USA zunehmend Einschränkungen und Verbote bestimmter Medien und sozialer Plattformen erwogen und beschlossen werden, haben die Behörden in Taiwan bislang auf solche Schritte bewusst verzichtet: «Auch in der Schweiz stehen wir Regulierungen wie dem ‘Digital Service Act, DAS’ der EU zur Regulierung der grossen Internetplattformen eher skeptisch gegenüber», sagt David Vogler.
Der DAS nimmt Onlineplattformen in die Pflicht, wenn es um die Weiterverbreitung von Information durch Nutzer:innen geht. Vogler betont: «Jedes Land und jede Gesellschaft hat ihre Besonderheiten, die im Umgang mit digitalisierten Medien berücksichtigt werden sollten.»
Für die Schweiz, die laut Vogler noch vergleichsweise wenig von Desinformationskampagnen betroffen sei, hätten die Forscher:innen des Fög in ihrem Bericht eine Liste von möglichen Massnahmen formuliert, darunter auch eine «unabhängige Desinformationsmonitoringstelle».
Audrey Tangs uneingelöstes Versprechen
Eine wichtige Rolle in der öffentlichen Wahrnehmung einer «demokratischen» Antwort auf die digitalen Herausforderungen spielte Audrey Tang in den letzten Jahren. Seit 2016 arbeitete Tang erst als Ministerin ohne Portfolio – und ab 2022 als Digitalministerin – in eigenen Worten nicht für, sondern mit der RegierungExterner Link in Taipei. Sie versteht sich als Bindeglied zwischen den Behörden und der Zivilgesellschaft.
Mit dem Amtsantritt der neuen Regierung unter dem im Januar gewählten Präsidenten Lai Ching-te endet Tangs «Mit-Regierungszeit» nun Ende Mai.
Die Wahlen Anfang Jahr machten deutlich, wie Taiwan bei wichtigen formellen Entscheidungsprozessen weiterhin auf analoge Methoden setzt: Eine Teilnahme war für jede:n der fast 20 Million Stimmberechtigten einzig und allein während acht Stunden in einem zugewiesenen Wahllokal der Heimatgemeinde möglich. Noch am Abend wurde jeder ausgefüllte Wahlzettel einzeln hochgehalten und deklariert. Die interessierte Öffentlichkeit hatte so die Möglichkeit, jede einzelne abgegebene Stimme zu verifizieren. Und noch bevor die letzten Zettel ausgezählt waren, hatten sich die Spitzenkandidaten der grossen Parteien bereits gegenseitig beglückwünscht. Auch so geht Demokratie im 21. Jahrhundert auf der ‘Ilha Formosa’ (dt. schöne Insel), wie Taiwan von den portugiesischen Seefahrern einst bezeichnet wurde.
Während der Einbezug der Bürger:innen in die Bekämpfung der Desinformation gelang, wurde ein zweites «demokratisches Versprechen» Tangs und der Regierung der bisherigen Präsidentin Tsai Ing-wen nicht erfüllt.
«Aus der lange angekündigten digitalen Mitsprache der Bürgerinnen und Bürger in der Politik ist bislang wenig geworden», hält Professor Yen-Tu Su gegenüber SWI swissinfo.ch fest. Su leitet das Rechtsinstitut an der Academica Sinica in Taipeh und bezeichnet den Kurs der Regierung in der Bürgerbeteiligung als «zumindest widersprüchlich». 2018 beschloss das Parlament eine weitreichende Reform der direktdemokratischen Volksrechte.
Rückschritte in der Bürgerbeteiligung
Zur Reform gehörte unter anderem die Einführung eines Systems zur elektronischen Unterschriftensammlung für Initiativen und Referenden. «Doch daraus ist bislang nichts geworden», hält der Jurist Su fest. Im Gegenteil: Das Parlament hat die proaktive Bürgerbeteiligung zuletzt mit neuen Hürden weiter eingeschränkt, und Yen-Tu Su sieht derzeit «wenig Interesse» bei den politischen Entscheidungsträger:innen, daran etwas zu ändern. Im Fokus stehe nun die Abwehr von Bedrohungen von aussen.
So bleibt der taiwanesische Weg der digitalen Partizipation vor allem ein reaktiver. «Das gesellschaftliche Engagement zur Verteidigung unserer hart erkämpften demokratischen Freiheiten verdanken wir auch unserer eigenen autoritären Vergangenheit und der jetzigen Regierung in China», sagt Chihhao Yu, Co-Leiter des Taiwan Information Environment Research Center (IORG), einer Nichtregierungsorganisation, die an der Schnittstelle von Desinformationsbekämpfung und Medienbildung aktiv ist.
Yu bilanziert: «Wir sind eine junge Demokratie, und in der aktuell angespannten Weltlage ist grossen Teilen der Gesellschaft bewusst, dass jede und jeder von uns eine Verantwortung für die Freiheit trägt.»
Mehr
Editiert von Mark Livingston
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch