Teilen, um zu Gewinnen auf Tunesisch
Vier Jahre nach der "Jasminrevolution" hat Tunesien eine moderne Verfassung, ein Parlament und einen Präsidenten, die frei gewählt wurden, sowie eine neue Koalitionsregierung. Der blutige Anschlag von Islamisten auf das Nationalmuseum erschüttert die "erste moderne arabische Demokratie" in ihren zarten Grundfesten. Dabei wartet der nächste Schritt: die Dezentralisierung, beruhend auf aktiver Bürgerschaft und partizipativer Demokratie.
Am 18. März verübten islamistische Terroristen in Tunis einen Anschlag auf das Bardo, das Nationalmuseum Tunesiens. Blutige Bilanz: über 20 Todesopfer. Die Attacke kam nicht ganz überraschend, begann doch das Parlament am selben Tag die Beratung eines Anti-Terror-Gesetzes. Am Abend bekannten sich alle politischen Parteien zur Weiterführung der Demokratisierung des Landes. Denn trotz des terrorbedingten Rückschlags verläuft die Entwicklung im Land sehr vielversprechend.
Ein solch vielversprechender Schritt war im Februar die Zustimmung einer grossen Mehrheit der Parlaments-Mitglieder zu einer neuen Regierung: 166 von 217 Abgeordneten unterstützten eine Koalitionsregierung, die einzige solche in der arabischen Welt.
Der neue Premierminister Habib Essid hatte dafür drei Anläufe benötigt. Nach zwei erfolglosen Versuchen zur Bildung einer Minderheitsregierung stellte der partei-unabhängige Essid eine Koalition mit den vier wichtigsten Parteien des Landes auf die Beine. Sie besteht aus der säkularen Nida Tounes (86 Sitze), der islamistischen Ennahda (69), der liberalen UPL (16) und Afek (8 Sitze). Auf diese Koalition baut nun die moderne Demokratie Tunesiens als unbestrittener Star des so genannten Arabischen Frühlings.
Vor ein paar Monaten bin ich Zeuge geworden, wie die verschiedenen Gruppen, Minderheiten und Fraktionen dieses 11-Millionen-Volkes den vierten Jahrestag ihrer Revolution feierten.
In der Fussgängerzone der Avenue Habib Bourgiba, der wichtigsten Flaniermeile in der Hauptstadt Tunis, standen Tausende friedlich für ihre Sache ein: Von den Familien, deren Angehörige während der Revolution von der Polizei misshandelt worden waren, über Schwulengruppen, Solidaritätskomitees für Palästina bis zu Gewerkschaften; von linken Kreisen über Islamisten bis zu Salafisten. Die Menge, die ich erlebte, bildete ein buntes und lautes Durcheinander, bot dabei aber stets ein hoffnungsvolles Bild für eine Region auf der Weltkarte, in welcher der Missbrauch der politischen Macht an der Tagesordnung ist.
Global Forum Tunis
Das Global Forum on Modern Direct Democracy findet vom 14. bis 17. Mai 2015 statt.
Gastgeberin ist die Karthago-Universität Tunis.
Die fünfte Auflage des Global Forum ist dem Schwerpunkt «Dezentralisierung durch Partizipation» gewidmet.
Am Kongress nehmen über 300 Bürgeraktivisten, Behördenmitglieder, Politiker und Medienvertreter aus über 30 Ländern teil.
Zu den Rahmenveranstaltungen werden über 1000 Besucher erwartet.
Veranstalter ist ein Netzwerk von Organisationen und Medien, die im Bereich Demokratisierung, aktive Bürgerschaft und Öffentlichkeit tätig sind.
Zu diesen gehören Democracy International (globales Netzwerk für Demokratie), UGTT (tunesische Gewerkschaft), IDEA (Internationales Institut für Demokratie und Wahlunterstützung). Medienpartner sind RNW (niederländisches Pendant von swissinfo.ch) sowie swissinfo.ch.
Gesellschaftlicher Kitt
Seit dem Sturz des Diktators Ben Ali vor vier Jahren hat die tunesische Gesellschaft eine solide Basis für eine moderne, partizipative Demokratie gelegt. Was aber macht den Unterschied von Tunesien und anderen Staaten in der Region aus, in denen sich die Verheissungen des Arabischen Frühlings in Luft aufgelöst haben?
Die Antwort liegt im Zusammenhalt der Gesellschaft. Diese ist getragen durch starke Pfeiler der Zivilgesellschaft. Dazu zählen etwa die Gewerkschaft UGTT, die Liga für Menschenrechte und die Frauen-Lobby. Auch Tunesien hat in den Kämpfen des Umbruchs barbarische Gewalt erlebt. Aber in deren Bewältigung ging Tunesien einen anderen Weg. Behörden und Gesellschaft machten sich geduldig und demütig auf die Suche nach Kompromissen, was die neuen Spielregeln betrifft. Das Resultat ist eine der modernsten Verfassungen der Welt.
Sie wurde von gut 93% der Mitglieder der verfassungsgebenden Versammlung gutgeheissen. Dieses wichtige Gremium war 2011 direkt vom tunesischen Volk gewählt worden.
Dennoch: Viele Tunesier, vor allem die jüngeren, die nach der Revolution riesige Erwartungen hegten, sind enttäuscht ob der «lauen» Fortschritte, die der eingeschlagene Weg der Verständigung und des Kompromisses hervorbrachte. Einige brachen übers Mittelmeer nach Europa auf. Andere, vor allem aus ländlichen Gegenden stammend, schlossen sich kämpfenden Einheiten in Libyen und Syrien an. Sie bringen nun die terroristische Saat in ihr Land zurück, wie der 18. März zeigt..
Vom Selbstbedienungsladen zur Lokalautonomie
Politische Gewalt ist aber nicht die einzige Sorge. Der Aufruhr in der gesamten Region hat auch die tunesische Wirtschaft arg in Mitleidenschaft gezogen. Wichtige staatliche Bereiche wie die Verwaltung und die Rechtsprechung harren immer noch Reformen. Was aber am schwersten wiegt, ist das Fehlen lokaler und regionaler Strukturen.
In der Diktatur standen die Dörfer, Städte und Provinzen unter direkter administrativer Verwaltung der Zentralregierung. Das Resultat waren Ineffizienz, Korruption und das völlige Fehlen einer Mitsprache der Bürger.
Mit der neuen Verfassung soll sich dies nun ändern. Sie sieht eine weitreichende Dezentralisierung vor, in deren Zentrum die partizipativen Demokratie und das Prinzip des offenen Regierens steht.
Art. 139 der neuen Verfassung verpflichtet die neuen lokalen Behörden zur Gewährleistung, dass sich Bürgerinnen, Bürger und die Zivilgesellschaft dort breitestmöglich an der politischen Gestaltung beteiligen können.
Bruno Kaufmann
Bruno Kaufmann ist Leiter des Demokratierats und der lokalen WahlbehördeExterner Link in Falun, Schweden. Er präsidiert das Initiative and Referendum Institute Europe und ist Ko-Leiter des Global Forum on Modern Direct Democracy. Er ist Nordeuropa-Korrespondent für Radio SRF der SRG SSR und Chefredaktor von people2power.infoExterner Link, der von swissinfo.ch entwickelten und gehosteten Plattform zum Thema Direkte Demokratie.
Die Einführung moderner demokratischer Strukturen, in denen die Bürger dank dezentraler Strukturen mitbestimmen können, zählt zu den ersten grossen Herausforderungen von Essids grosser Regierungs-Koalition. Hier müssen die Pflanzen der tunesischen Version des Arabischen Frühlings neue Blüten treiben, wie dies bereits mit der Verabschiedung der neuen Verfassung und der Abhaltung einer Reihe von freien und grösstenteils fairen Wahlen geschehen ist.
Aber um in den Gemeinden Lokalregierungen zu installieren, sind mehr als nur Wahlurnen notwendig. Nötig sind neben der Mitbestimmung auch fein austarierte demokratische Mechanismen und Abkommen.
Globale Herausforderung
Die neue Koalitionsregierung Habib Essids hat keine Zeit zu verlieren. Kritiker mahnen an, dass die ersten Wahlen auf lokaler und regionaler Ebene noch in diesem Jahr stattfinden sollen. Aber bevor dies der Fall sein kann, müssen erst zahlreiche Grundsatzfragen gelöst werden.
Etwa die nach den geographischen Grenzen der noch zu definierenden Gemeinden und Provinzen. Dann auch die Frage, auf welcher Rechtsgrundlage die Autorität der neuen Lokalregierungen fusst.
Tunesien ist nur die jüngste Demokratie auf der Erdkugel, die sich mit diesen zentralen Fragen konfrontiert sieht. Dies ist auch einer der Gründe, weshalb die Universität Karthago, die wichtigste akademische Institution des Landes, im kommenden Frühling das 2015 Global Forum on Modern Direct Democracy beherbergt. Zu den Veranstaltern zählt auch swissinfo.ch und «Power2People».
Das Treffen soll den hoffnungsvollen tunesischen Geist verkörpern, mit dem das Volk vereint dem Terrorismus entgegensteht und den Aufbau der Demokratie im Land vorantreibt: In mühseliger, aber unerlässliche Knochenarbeit des demokratischen Teilens.
«Standpunkt»
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(Übersetzung aus dem Englischen: Renat Kuenzi)
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