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Die Tücken der direkten Demokratie

Die Unverjährbarkeit ist am Montag das Überraschungsthema in den Schweizer Zeitungen. swissinfo.ch

Die Schweizer Presse ist sich einig: Die Überraschung des Abstimmungs-Sonntags ist die Unverjährbarkeits-Initiative. Nun sei das Parlament gefordert, so der Tenor. Auch die Renten-Initiative war einigen Zeitungen einen Kommentar wert.

«Kein Pardon bei Kindern» titelt der Tages Anzeiger. Das gestrige Ja und jenes zur Verwahrungs-Initiative vor vier Jahren zeigten, «wie hoch das Volk den Schutz der Kinder wertet».

Rechtsexperten, die ausschliesslich von der schwierigen Umsetzung eines Gesetzes, aber nie von Sicherheitsbedürfnissen der Menschen sprächen, hätten wenig Einfluss.

«Direkte Demokratie ist eine unbequeme Staatsform. Sie enthüllt nicht nur Ängste, sondern macht extreme Ideen mehrheitsfähig, wenn die Bürgerschaft den Eindruck gewinnt, sie werde von Politikern, Experten, Juristen und Medien nicht ernst genommen.»

Das Ja zur Unverjährbarkeit habe die «Opfer endlich ernst genommen», schreibt die Aargauer Zeitung.

Es sei «unsäglich, wenn Politiker jetzt diese Initiative aus dem Volk als unjuristisches Laienwerk brandmarken, statt den Gründen des Unmuts nachzugehen».

Die Botschaft vom 30. November sei eine andere: «Eine Volksinitiative ist ein Richtungssignal.» Sie solle ein Problem nicht lösen, aber aufzeigen. «Es geht um die Sicherung des individuellen Anspruchs der Opfer auf staatliche Anerkennung ihrer Opferwerdung.»

Bund und Parlament gefordert

«Parlament gefordert», schreibt die Berner Zeitung. «Das emotionale Thema hat aufgerüttelt, und der Wunsch, Opfern Gehör zu verschaffen und ihnen zu Gerechtigkeit zu verhelfen, hat Bedenken aus strafrechtlicher Sicht zur Seite gedrängt.»

Die Frage stelle sich, wie man erkläre, «dass sich Mörder irgendwann frei fühlen können, weil ihre Tat verjährt, Vergewaltiger aber ein Leben lang strafrechtlich verfolgt werden können».

Nun sei das Parlament am Ball: «Das Parlament wird nicht darum herumkommen, grundsätzlich über das bisher unbestrittene System der Verjährung zu diskutieren.»

Das Parlament habe die Chance verpasst, die Altersgrenze höher anzusetzen und sich damit Probleme eingehandelt, meint die Basler Zeitung.

«Denn die Initiative operiert mit juristisch unklaren Begriffen. Zudem wird für ein Delikt die Unverjährbarkeit eingeführt, während sie für andere schwere Straftaten nicht gilt. Das schafft Ungleichheit. Daran werden Bund und Parlament noch zu beissen haben.»

Klares Zeichen

«Alle diskutierten über AHV, Hanf und Verbandsbeschwerde, niemand über die Unverjährbarkeit von Kinderschändung», schreibt der Blick. Die Mehrheit der Stimmenden habe ein Zeichen setzen wollen.

«Wie schon bei der Verwahrungsinitiative muss jetzt die Politik einen Weg aus dem Dilemma finden: Volkswille gegen juristische Prinzipien.»

Unlösbare Umsetzungs-Probleme allerdings sieht Der Bund aus Bern nicht. «Die Politik wird das Signal der Initiative nicht unbeachtet lassen und als Ansporn für Verschärfungen im Strafrecht nehmen.»

Und auch die Strafen für Pädophilie-Täter dürften erhöht werden. «Heute wird Kindsmissbrauch gleich behandelt wie Vermögensdelikte. Das ist eigentlich stossender als die Verjährungsfrist.»

Kein Dialog

Ein Erfolg, aber nur eine halbe Überraschung sei der Sieg des kleinen Komitees für die Unverjährbarkeit, schreibt die Westschweizer Zeitung Le Temps. Seit dem Ja zur Verwahrungs-Initiative 2004 sei klar, dass das Stimmvolk zu Gunsten der Opfer abstimme.

«Eine rationelle Prüfung zeigt den Wunsch, in der Komplexität der Realität mit einer einfachen Entscheidung die Grenzen zwischen Gut und Böse festzulegen.»

Das gestrige Ja fordere die Justiz, ist die Tribune de Genève überzeugt. «Zwischen Politikern und Experten einerseits, die zu behutsam auf die Vernunft pochten, und einer Bevölkerung, bewegt von Emotionen, konnte gar kein Dialog entstehen.»

Votum für Stabilität

Etwas seltener finden sich Kommentare zur abgelehnten Renten-Initiative. «Keine Experimente» titelte die Neue Zürcher Zeitung dazu. «Eine stabile Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) ist dem Volk wichtiger als ein etwas früherer Bezug der Rente ohne längerfristig gesicherte Finanzierung.»

Und die Neue Luzerner Zeitung betont: «Die Stimmberechtigten haben Sinn für Realität bewiesen.» Klar sei aber, dass die Flexibilisierung des Rentenalters weiter aktuell bleibe, in der 11. Revision der AHV.

Und der Corriere del Ticino schliesslich ergänzt: «Die Zukunft der AHV kann nicht finanziert werden, ohne die Entwicklung der Lebenserwartung und einen neuen Generationenvertrag zu berücksichtigen.»

swissinfo, Christian Raaflaub

Volksinitiative «Für eine vernünftige Hanf-Politik mit wirksamem Jugendschutz»:
36,8% Ja, 63,2% Nein

Bundesgesetz über die Betäubungsmittel und die psychotropen Stoffe (Betäubungsmittelgesetz):
68,0% Ja, 32,0% Nein

Volksinitiative «Für die Unverjährbarkeit pornografischer Straftaten an Kindern»:
51,9% Ja, 48,1% Nein

Volksinitiative «Für ein flexibles AHV-Alter»:
41,4% Ja, 58,6% Nein

Volksinitiative «Verbandsbeschwerderecht: Schluss mit der Verhinderungspolitik – Mehr Wachstum für die Schweiz!»:
34,0% Ja, 66,0% Nein

Stimmbeteiligung: 46,1%

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